Es ist erst ein paar Monate her, dass in einer Escher Schule ein 19-Jähriger eine jüdische Mitschülerin antisemitisch beleidigte. Unter anderem hatte er zu ihr gesagt: „Du bist Jüdin. Man hätte dich vergasen müssen.“ Außerdem hatte er auf dem Schulgelände mehrfach den Hitlergruß gezeigt. Das Tageblatt berichtete im Juli über diesen Fall. Die Schule hatte zwar die Polizei verständigt, den Schüler allerdings nicht von der Schule verwiesen.
Der Fall habe zu Traumata bei mehreren Personen geführt, sagte Bernard Gottlieb, Präsident der Vereinigung „Recherche et information sur l’antisémitisme au Luxembourg“ (RIAL), der in Kontakt mit der Mutter der Schülerin stand. „Der angerichtete Schaden ist groß“, so Gottlieb. Die Mutter sorgte sich um den Gesundheitszustand ihrer Tochter. Das Tageblatt konnte sich im Gespräch mit der Mutter, der betroffenen Schülerin und zwei ihrer Mitschüler davon überzeugen, dass diese allesamt von der Situation und dem Verhalten des radikalisierten Schülers zutiefst betroffen und verunsichert waren. In der Schule wurde ein „Conseil de discipline“ einberufen. Der Rat entschied wegen des Verdachts auf das „Asperger-Syndrom“ bei dem Schüler, diesen nicht von der Schule zu verweisen.
Der RIAL-Vereinigung sind nur sehr wenige Fälle von Antisemitismus an Luxemburger Schulen bekannt. Insgesamt registrierte die Polizei 2022 hierzulande 76 Fälle von Diskriminierung, darunter auch einige in einem judenfeindlichen Kontext, die die Vereinigung aufgelistet hat. Dies sei eine wichtige Informationsquelle für die Vorbereitung des PANAS, schrieb Bettel in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage. Ziel sei es, ein umfassendes System zur Datenerfassung für antisemitische Vorfälle einzurichten. Von den im Bericht 2022 aufgeführten Fällen wurde nur einer strafrechtlich verfolgt, in zwei weiteren ermittelt. In den vergangenen Jahren war es in Fällen, bei denen ein Zusammenhang zwischen dem gelben Stern, der an die Verfolgung der Juden in der Nazizeit erinnert, und der Impfpflicht festgestellt wurde, zu einer Verurteilung gekommen.
Zunahme des Antisemitismus
Fakt ist, dass der Antisemitismus und die Gewalt gegen Juden in Europa in den vergangenen Jahren zugenommen haben. Dies bestätigten mehrere Untersuchungen. Dabei unterscheiden sich die Formen und Ausprägungen in den verschiedenen Ländern stark voneinander. In Großbritannien etwa haben sich antisemitische Fälle zwischen 2012 und 2020 verdoppelt und in den letzten drei Jahren sogar fast verdreifacht. Der Antisemitic Incidents Report 2021 zeigt, dass in dem genannten Jahr landesweit 2.255 antijüdische Vorfälle gemeldet wurden – die höchste jährliche Zahl, die vom Community Security Trust je verzeichnet wurde. Auch in Frankreich, das mit knapp einer halben Million Menschen die größte jüdische Bevölkerung Europas hat, fühlen sich jüdische Bürger zunehmend unsicher. Nach einer von der Europäischen Union für Grundrechte in Auftrag gegebenen Umfrage sind 77 Prozent der französischen Juden der Ansicht, dass der Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren „stark zugenommen“ habe. 60 Prozent der Befragten fürchteten, angegriffen oder beleidigt zu werden. Derweil meldete das deutsche Bundeskriminalamt im Frühjahr für das Jahr 2022 bisher 2.639 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund – die üblichen Nachmeldungen im letzten Quartal zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einberechnet. Judenfeindliche Gewalttaten waren im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2021 von 63 auf 88 Delikte angestiegen. Dazu zählten gefährliche Körperverletzungen, räuberische Erpressung und Brandanschläge. Und Spanien, wo Juden nur etwa 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, gehört zu den Ländern Westeuropas, in denen der Antisemitismus besonders ausgeprägt sei, konstatiert Alejandro Baer, Soziologe an der University of Minnesota und Direktor des Center for Holocaust and Genocide Studies.
Etwa 38 Prozent der Juden in Europa haben eine Auswanderung in Erwägung gezogen, weil sie sich in der EU nicht mehr sicher fühlen. „Neun von zehn Juden sind der Ansicht, dass in ihrem Land der Antisemitismus zugenommen hat“, sagt Katharina von Schnurbein. Die Politikwissenschaftlerin und Slawistin ist seit 2015 Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission. Angesichts dieser Tendenzen hat die Brüsseler Kommission ihre Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens entwickelt. Die Maßnahmen konzentrieren sich auf drei Schwerpunkte: die Verhütung aller Formen von Antisemitismus, den Schutz und die Förderung jüdischen Lebens sowie die Förderung von Forschung, Aufklärung und Gedenken an den Holocaust. Hinzukommen eine intensivere Zusammenarbeit mit Online-Firmen zur Eindämmung von Antisemitismus im Internet, nach den Worten von Katharina von Schnurbein ein „Einfallstor“, der Schutz von Kultstätten, ein europäisches Forschungszentrum für Antisemitismus sowie ein Netz von Orten, an denen der Holocaust geschah.
Die Umsetzung der Strategie der Europäischen Kommission erstreckt sich über den Zeitraum von 2021 bis 2030. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich, durch neue nationale Maßnahmen oder Strategien den Antisemitismus zu bekämpfen. Der Forschung kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Hierbei gilt es noch Lücken zu füllen, wie das Institute for Jewish Policy Research (JPR), ein unabhängiger Thinktank in London, herausfand. Der Bericht des JPR sei als Bestandsaufnahme der Forschung ein erster Schritt für die Europäische Kommission, um einen Überblick über das gegenwärtige jüdische Leben, seine Entwicklung und die Auswirkungen des Antisemitismus auf dieses zu erlangen, sagt Katarina von Schnurbein.
Wissenschaftliche Lücken gefüllt
Lange Zeit fehlte hierzulande eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Antisemitismus in Luxemburg. Historiker wie etwa Denis Scuto und Vincent Artuso brachten einiges ans Licht, was die luxemburgische Beteiligung an der Judenverfolgung während der Besatzungszeit betrifft. Aber auch Schriften wie etwa „L’antisémitisme a bel et bien aussi existé au Luxembourg“ (1996) von Lucien Blau sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Ein Meilenstein ist das Buch „Luxemburg im Schatten der Shoah“ (2019) von Mil Lorang, das von der Organisation „MemoShoah Luxembourg“ herausgegeben wurde und zeigt, was vor und nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 10. Mai 1940 in Luxemburg geschah.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Historikerin Renée Wagener „Emanzipation und Antisemitismus. Die jüdische Minderheit in Luxemburg vom 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert“. Der Autorin geht es sowohl um Emanzipationsprozesse und die gesellschaftliche Inklusion der Juden als auch um Äußerungen von Exklusion und Antisemitismus. „Der Antisemitismus war Bestandteil autoritärer Tendenzen hierzulande“, schreibt Renée Wagener. Der Antijudaismus sei lange Zeit durch den Katholizismus geprägt gewesen, völkisch-rassistische Denkmuster hätten aber gerade während der Naziherrschaft auch hierzulande durchaus Erfolg gehabt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei die Judenverfolgung lange Zeit in der Erinnerung an die deutsche Besatzung ausgeblendet worden.
Nach den Beratungen über den sogenannten Artuso-Bericht entschuldigten sich 2015 das Parlament und die Regierung von Premier Bettel bei der jüdischen Gemeinde für das Leid, das den Juden in Luxemburg während des Zweiten Weltkriegs zugefügt wurde. Im Jahr darauf wurde für die Opfer der Shoah ein nationales Mahnmal, eine Statue des Bildhauers Shelomo Selinger, mit dem Namen „Kaddish“ eingeweiht.
Dass die Erinnerungsarbeit und der von Bettel und Katharina von Schnurbein vorgestellte Aktionsplan heute und in Zukunft nötig sind, zeigen nicht zuletzt Vorfälle wie jener in der Escher Schule. Der Schüler, der seine jüdische Mitschülerin so tief beleidigt hat, kommt nicht um Auflagen wie etwa eine therapeutische Betreuung herum. Doch auch den Betroffenen gilt es zu helfen. Die Gesellschaft – in diesem Fall kommt der Schule eine große Verantwortung zu – darf sie nicht allein lassen.
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