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Ausschreitungen in FrankreichBanlieues – Zeitbomben oder Territorien des Widerstandes

Ausschreitungen in Frankreich / Banlieues – Zeitbomben oder Territorien des Widerstandes
Die Polizei schlägt mit Tränengas zurück, wie hier am 2. Juli in Paris Foto: AFP/Ludovic Marin

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Die Explosion der Gewalt in den Banlieues, nachdem ein 17-Jähriger bei einer Polizeikontrolle getötet wurde, hat eine lange Vorgeschichte, aus der bis heute keine tauglichen Lehren gezogen wurden.

Brandgeruch liegt am Samstagmorgen über Neuhof. Im Rathaus des Straßburger Stadtteils wurde in der von Donnerstag auf Freitag Feuer gelegt, ebenso im nahen Kulturzentrum. Zahlreiche Autos gingen in Flammen auf: In der vergangenen Nacht brannten 74, in der Nacht zuvor wurden in Straßburg 60 zerstörte Autos gezählt. Im Vorort Cronenbourg wurden zwei Schulen angezündet und verwüstet. Brennende Fahrzeuge und Gebäude sind für die etwa 20.000 Bewohner des Viertels nichts Neues. Seit vielen Jahren ist Neuhof, wie Hautepierre im Westen der Elsass-Metropole, ein sozialer Brennpunkt und bekannt für Krawalle. Vor allem in den Silvesternächten geht es zwischen den tristen Wohnsiedlungen aus Plattenbauten hoch her. Wie in vielen anderen Banlieues französischer Städte herrscht in der Vorstadt im Süden Straßburgs Perspektivlosigkeit, die sich manchmal in exzessiver Gewalt entlädt. Dann kommt es zu Brandstiftungen und Plünderungen sowie zu handfesten Auseinandersetzungen der Jugendlichen aus dem Viertel mit der Polizei. Das gilt schon seit den 80er Jahren und hat sich bis heute nicht geändert.

Von einem „Guerilla-Krieg“ spricht ein hoher Polizeibeamter. Diesmal begann es damit, dass der 17-jährige Nahel in dem Pariser Vorort Nanterre von einer Motorradstreife gestoppt worden war. Als der Junge algerischer Abstammung losfuhr, schoss der Polizist auf ihn. Das Auto prallte gegen eine Absperrung und kam zum Stehen. Nahel starb kurz darauf. Er hatte eine Schusswunde in der Brust. Die Szene war per Smartphone aufgezeichnet worden und ging schnell viral. In dem Video soll zu hören gewesen sein, wie der Polizist gesagt hatte: „Du kriegst eine Kugel in den Kopf.“ Der Uniformierte kam in Untersuchungshaft, gegen ihn wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Ein längst bekanntes Problem

Der Vorfall hat eine erneute Welle der Gewalt in mehreren französischen Städten ausgelöst. Allein in der Nacht zum Samstag nahm die Polizei im ganzen Land mehr als 1.300 Personen fest. 79 Polizisten wurden verletzt. Präsident Emmanuel Macron sagte seine Deutschland-Reise ab. Nach den Gelbwesten und Rentenprotesten haben ihn nun die sozialen Brennpunkte der Banlieues und damit ein längst bekanntes Problem eingeholt. Der Druck auf den Staatschef steigt.

Seit Jahrzehnten wird über die Gewaltexzesse der Jugendlichen aus den Cités diskutiert. Jedes Mal waren brutale Übergriffe der Polizei der Auslöser. In einigen Fällen endeten sie tödlich. So wie am 27. Oktober 2005, als zwei Jugendliche in Clichy-sous-Bois bei Paris auf der Flucht vor der Polizei von Stromschlägen tödlich getroffen wurden. Danach kam es 20 Nächte lang in mehreren Städten zu Ausschreitungen. Die Regierung rief den Notstand aus. Im Unterschied zu damals gibt es im aktuellen Fall ein Video als Beweismittel, dessen Verbreitung einen ähnlichen Impakt hat wie jenes vom Tod des Afroamerikaners George Floyd vor drei Jahren in den USA, das zum Erstarken der „Black Lives Matter“-Bewegung führte. Frankreich hat nun seinen George-Floyd-Moment. Doch schnell hat sich die Empörung verlagert: Zuerst war sie auf die Ordnungshüter gerichtet, danach auf die vermeintlich destruktive Jugend der Banlieues. Die einen sind entsetzt über den martialischen Einsatz der Sicherheitskräfte, die anderen über die Ohnmacht des Staates und die Parallelwelten in den Vorstadtghettos. Vor allem die extreme Rechte beklagt sich darüber, dass Milliarden Euro vergeblich in die Problemviertel investiert worden seien. Und das Bürgertum sah sich einer zunehmenden Barbarei ausgesetzt, als in L’Haÿ-les-Roses Randalierer das Haus des Bürgermeisters mit einem Auto rammten und Feuer legten. 

„Sauver la jeunesse … et la police“, fordert Serge July. Der Libération-Chefredakteur weist darauf hin, dass seit den 70er und 80er Jahren bekannt ist, dass sich die Probleme des Hexagons in den Banlieues konzentriert wiederfinden: von der sozialen Ungleichheiten bis zu einer gescheiterten Integration der Einwanderer, ebenso wie eine misslungene Stadtplanung, eine hohe Arbeitslosigkeit in den Vierteln mit Quoten von bis zu 40 Prozent vor allem unter Jugendlichen, eine fehlgeleitete Bildungs- und eine falsche Drogenpolitik. July fordert außerdem einen Kurswechsel, was die Polizei trifft: Angefangen bei deren Ausbildung; auch sollten die Kontrollinstanzen der Sicherheitskräfte ausgelagert und die „Police de proximité“ wiederbelebt werden; nicht zuletzt sollte „die Deontologie wieder das schlagende Herz dieser Institution werden“.

Randale in Marseille am 1. Juli
Randale in Marseille am 1. Juli Foto: AFP/Clément Mahoudeau

Meine erste Erfahrung mit einer Banlieue machte ich 1984 in der Nähe von Lyon. Ich verbrachte als Austauschschüler eine Zeit lang bei einer Familie in Rillieux-la-Pape, einem nördlichen Vorort im zweitgrößten Ballungsraum Frankreichs. Jeden Tag fuhr ich mit dem Bus ins Zentrum und beobachtete, wie die Bewohner aus der Peripherie einstiegen, um innerhalb des urbanen Ballungsraumes zur Arbeit zu fahren. Ich hörte ihnen zu, wie sie miteinander sprachen. Es war ein anderes Französisch als das, was ich im Schulunterricht gelernt hatte. Zu den Bewohnern der Banlieue gehören sowohl offiziell registrierte oder sogenannte illegale Ausländer als auch französische Staatsbürger, deren Eltern aus den früheren französischen Kolonien in Nord- und Subsahara-Afrika und den französischen Überseegebieten sind. „Black, blanc, beur (arabisch)“, wie es idealisierend hieß – die multikulturelle Dreifaltigkeit orientierte sich jedoch nicht an „Liberté, égalité, fraternité“, sondern war territorial segregiert und rassistisch konnotiert. Gelegentlich trainierte ich abends auf der Bahn des Leichtathletikstadions in Rillieux-la-Pape. Auf einem Schild am Eingang las ich folgende Worte: „Interdit aux chiens et aux Arabes!“ Ich war geschockt. Der Rassismus ist Alltag in Frankreich wie auch anderswo. Das kann Lilian Thuram bestätigen: Der frühere Fußballnationalspieler übt in seinem 2020 erschienenen Buch „La pensée blanche“ deutliche Kritik am Rassismus. Seine These: „Man wird nicht weiß geboren, sondern man wird es.“

Thema des „Cinéma beur“

Ein Rassismus, der in der französischen Kultur bis dahin nur selten eine Rolle gespielt hatte. Zurück in der Heimat schaute ich mir im Kino den Film „Le Thé au Harem d’Archimède“ an. Der Streifen von Mehdi Charef, der seinen eigenen Roman verfilmt hatte, war nicht nur bahnbrechend für eine Reihe weiterer Filme und Filmemacher, die sich dem Thema der Banlieues und der damit verbundenen sozialen Problematik widmeten. Er war zudem prägend für mich. Er handelt von einer Gruppe von Jugendlichen aus der Banlieue, die sich – ohne Arbeit und mit rassistischen Beamten konfrontiert – mit kleinen Gaunereien über Wasser halten, umgeben von einer explosiven Mischung aus Drogen, Alkohol und Aussichtslosigkeit. Was sie aufrecht hält, ist ihre Freundschaft. Das französische Kino hat seit jeher oftmals einen hohen künstlerischen Anspruch verfolgt, manchmal auch einen politischen und gesellschaftskritischen – nach dem Krieg von Alain Resnais’ „Hiroshima mon amour“ bis zur Nouvelle Vague und ihren Apologeten –, aber die Sicht der Immigranten war erst spät aufgegriffen worden. Mit dem „Cinéma beur“.

Mitte der 80er Jahre kam ich auch zum ersten Mal nach Neuhof. Ich war mit Freunden nach Straßburg gefahren, um ein Konzert der Punkband Bérurier Noir in dem Musikclub „Bandit“ zu sehen. Anschließend fuhren wir zu einer Party nach Neuhof. Diese wurde jedoch von der Polizei jäh beendet. Was mir besonders in Erinnerung blieb, war das harte, gewaltsame Vorgehen der Uniformierten, im Jargon der Vorstädte „keufs“ genannt. Sie fackelten nicht lange, warfen einige der Partygäste zu Boden, suchten nach Drogen und fanden auch einige. Die Polizisten nahmen ein paar Leute in Handschellen mit, darunter auch unseren Freund Hakim. Der Korpsgeist der Polizisten findet sein Gegenüber und seine Entsprechung im Zusammenhalt der Jugendbanden: in ihrem Hass auf die „keufs“, sagte mir dieser einmal. Wir wurden an diesem Abend auch gefilzt und dann in Ruhe gelassen. Auf dem Nachhauseweg in meinem klapprigen VW Polo erzählte mir mein Kumpel Alex von seinen Erfahrungen mit der französischen Polizei: „Wenn du Pech hast, nehmen die dich auf dem Revier ziemlich in die Mangel.“ Schläge auszuteilen und die Festgenommenen in den Schwitzkasten zu nehmen, gehören zum Standard.

Ein Geschäft in Lyon am dritten Tag der Krawalle
Ein Geschäft in Lyon am dritten Tag der Krawalle Foto: AFP/Olivier Chassignole

Ich war später noch etliche Male in Neuhof, lernte aber auch Banlieues in anderen Städten kennen: etwa La Castellane im Norden von Marseille oder Clichy-sous-bois bei Paris, auch dieses Mal wieder Brennpunkte der Ausschreitungen. Die Bewohner der Vorstädte sind weitgehend stigmatisiert. Wer von dort kommt, ist abgestempelt, wenn er nicht gerade Zinedine Zidane heißt. „Die Exklusion beginnt damit, keine Arbeit zu haben, keinen Zugang zum Transport zu haben, aber es bedeutet auch, dass man seine Rechte nicht in vollem Umfang wahrnehmen darf. Das ist auch, nicht sein CV an ein Unternehmen zu schicken, ohne dass nicht berücksichtigt wird, dass man in ‚93‘ wohnt.“ Der Pariser Soziologe Michel Kokoreff sagt: „Trotz des Rufes eines Landes der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie usw. gibt es eine Art Rassenbarriere. Tatsächlich ist es immer noch schwieriger, einen Job zu finden, wenn man Boubacar heißt, malischer Herkunft ist, als wenn man Bernard heißt und die Eltern in der Bretagne geboren sind. Auf dem Papier ist es ein Land der Gleichheit, in der Realität aber der Ungleichheit und Ungerechtigkeit.“

Mitte der 90er Jahre kam „La Haine“ in die Kinos. Als der Film herauskam, war gerade Jacques Chirac zum Präsidenten gewählt worden. Er hatte sich ein paar Jahre zuvor über den Lärm und den Gestank der Banlieues beschwert. In den Cités hat er sich damit sicher keine Freunde gemacht. „La Haine“ spielt in einem Außenbezirk der Hauptstadt. Der Fall des 18-Jährigen Makomé aus dem Jahr 1992 hatte den Regisseur Matthieu Kassovitz dazu bewogen, den Film zu drehen. Der Jugendliche war während eines Verhörs in einem Pariser Polizeirevier von einem Polizisten durch einen Kopfschuss getötet worden. Und der 17 Jahre alte Habib Mohammed Ouida wurde bei einem Polizeieinsatz in Toulouse erschossen. Kassovitz sagte in einem Interview: „Die Jugendlichen gehen auf die Bullen los, die auf die Jugendlichen losgehen. Und jedes Mal endet das mit einem Wahnsinn. Doch die Bullen sitzen am längeren Hebel.“

Polizisten in Marseille am 1. Juli
Polizisten in Marseille am 1. Juli Foto: AFP/Clément Mahoudeau

„La Haine“ schildert 24 Stunden im Leben von drei jungen Männern aus der Pariser Banlieue Chanteloup-les-Vignes, die jeweils eine der benachteiligten Minderheiten der Gesellschaft repräsentieren. Ein Junge aus ihrem Viertel liegt nach einer Konfrontation mit der Polizei im Koma. Während die drei Protagonisten durch die Pariser Innenstadt ziehen und es einmal mit Neonazis zu tun haben, erliegt er seinen Verletzungen. Der Film beginnt ungefähr mit folgenden Worten: „Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock eines Hochhauses fällt. Während er fliegt, sagt er sich immer wieder: ‚Jusqu’ici tout va bien‘ (Bis jetzt ging alles gut).“ Schließlich heißt: „Wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung.“ Der Philosophe und Soziologe Jean Baudrillard schrieb: „Der Hass hat keine Geschichte. Er hat Teil am Ende des Sozialen und der Geschichte. (…) Und der Hass ist zugleich das Symptom und der Motor dieses brutalen Niedergangs.“

Spiegelbild der „inégalités“

In den 90er Jahren sah ich, wie in Clichy-sous-Bois und in der Cité Orgemont im Département Seine-Saint-Dénis die sozialen Probleme ausgeprägt waren, wie Arbeitslosigkeit und Kriminalität grassierten. Die Polizei traute sich kaum in die Viertel. Und wenn, dann versuchen sie zu zeigen, dass sie die Oberhand haben. Mich erinnert die polizeiliche Vorgehensweise an jene, die ich aus den Favelas in Brasilien, den Villas Miserias in Argentinien und in den früheren Townships Südafrikas kannte. Bezeichnend ist das Lied des brasilianischen Rappers Criolo „Não existe amor em SP“ über seine Heimatstadt São Paulo. In den Complexo do Alemão oder nach Rocinha, zwei der größten Favelas von Rio de Janeiro, ließ sich die Polizei lange Zeit erst dann blicken, wenn ein gewisses Machtvakuum entstanden war. Ähnlich verhielt es sich mit Orten wie Fuerte Apache oder der Villa 31 in Buenos Aires, Gegenden wie Manenberg oder Mitchells Plain in den Cape Flats von Kapstadt: Die Polizei ist ein Machtfaktor, ein Player im kriminellen Game, aber sie ist nicht wirklich der Vertreter eines starken Staates, sondern nichts anderes als eine weitere kriminelle Bande, die nicht zuletzt durch ihre Korruptheit allen Kredit bei den Bürgern verspielt hat. So weit ist Frankreich noch nicht, aber wenn ein liberaler Präsident wie Emmanuel Macron mit autoritären Methoden „durchregiert“ und nur noch polizeiliche Großaufgebote für Sicherheit sorgen können, dann ist es etwas faul im Staat. Die Banlieues wie Seine-Saint-Denis, Neuhof oder Rillieux-la-Pape sind ein Spiegelbild der „inégalités“. Die Cités sind Orte des sozialen Abstiegs – mit Armutsraten um 40 Prozent und einer Jugendarbeitslosigkeit, die zeitweise bei einem Drittel lag.

Einige Jahre später war ich für eine Reportage wieder in Neuhof. Es hatte sich nichts geändert. Ich war mit einem katholischen Priester in dem Viertel sowie mit meinem alten Freund Hakim unterwegs, der mittlerweile als Streetworker arbeitete. Wir spazierten durch die Cité, sprachen mit Jugendlichen, die auf Autos saßen oder in den Eingängen der Wohnsilos herumhingen, klischeehaft Joints rauchten, die Zeit totschlugen und mich misstrauisch musterten. Die meisten Jugendlichen hätten nichts zu tun, keine Arbeit außer kleinen Jobs und ein paar Deals, sagte mir Hakim. Dauernd seien sie im Visier der „keufs“. Mehrmals am Tag werden sie kontrolliert, dauernd werde „racial profiling“ praktiziert. Wer arabisch aussieht oder afrikanisch aussieht, wird häufiger kontrolliert. Wir betraten zusammen mit dem Priester einige „Habitations à loyer modéré“ (HLM) und besuchten Leute, die mit ihren schlecht bezahlten Jobs kaum über die Runden kamen. Etwa die Hälfte der Einwohner von Neuhof lebt unter der Armutsgrenze, das Einkommen ist hier halb so hoch wie der Landesdurchschnitt, die Arbeitslosigkeit mehr als doppelt so hoch wie in den besser gestellten Stadtteilen, der Anteil derer mit einer prekären Arbeitsstelle liegt deutlich höher als anderswo. Der Geistliche ging mit mir in ein Geschäft, wo Bedürftige billig einkaufen konnten und die meisten Kunden Migranten und Migrantenkinder waren, andere waren Franzosen, die nicht mehr wie früher die Kommunistische Partei wählten, sondern inzwischen den „Front national“ – den Marine Le Pen unter dem Namen „Rassemblement national“ zur stärksten Oppositionspartei gemacht hat. Und ich sah das ausgebrannte Wrack eines Autos, das gestohlen und mit dem so lange herumgefahren worden war, bis die Kids keine Lust mehr hatten – und es anzündeten.

Bild der Zerstörung: Nantes am 1. Juli
Bild der Zerstörung: Nantes am 1. Juli Foto: AFP/Sébastien Salom-Gomis

Schulen anzugreifen und zu verwüsten, ist idiotisch, sagt mir ein Bewohner aus Cronenbourg. Das werde letztendlich nur den Rechtsextremen zugutekommen. Und Jamila Haddoum regt sich über die niedrige Wahlbeteiligung in ihrem Stadtviertel bei den Parlamentswahlen 2022. Das kommt nur den Rechtsextremen zugute, weiß sie. Die junge Frau ist hier aufgewachsen. Nach einer Karriere als Rapperin hat sie als Sozialarbeiterin angefangen. „Unter den Schülern des Sekundarunterrichts sind nur wenige, denen man ein Medizin- oder Jurastudium zutraut“, sagt sie. „Vielmehr werden sie in Richtung Verkauf, Schneiderei und Friseurhandwerk orientiert. Ich will nichts gegen diese Berufe sagen, aber ich trauen den Jugendlichen auch zu, Anwalt zu werden.“ Haddoum wehrt sich gegen die Klischees. Sie weiß, dass in Neuhof mit Drogen gehandelt wird, sie wolle das nicht herunterspielen, betont aber auch, dass „nicht jeder Jugendliche aus der Cité ein Dealer ist“.

Wer es zu etwas bringen möchte, träumt eben vom Aufstieg über den Sport oder im Musikgeschäft. So stammen aus Neuhof der Freiburger Fußballprofi Jonathan Schmid und der Rapper Abd Al Malik, dessen früherer Name Régis Fayette-Mikano war. Letzter ist kongolesischer Herkunft, geboren ist er in Paris, aufgewachsen in Brazzaville und aufgewachsen ist er zusammen mit seinen sechs Geschwistern in der Straßburger Cité, war in kleinere Straßenkriminalität verwickelt, bis einige seiner Freunde an Überdosen starben. Er trat zum Islam über und änderte seinen Namen. Mit seinem Bruder gründete er die Rap-Crew New African Poets (N.A.P.). Es ist schwierig, dem Ghetto zu entkommen. Wer aus Neuhof kommt, der ist abgestempelt, wie jene aus Castellane oder Seine-Saint-Denis, als hätte man die Postleitzahl auf die Stirn tätowiert.

Die wochenlangen Ausschreitungen von 2005 waren bis heute die längsten und heftigsten. Zwei Jahre besuchte ich mit dem befreundeten Fotografen Patrick Galbats ein paar Mal Mont-Saint-Martin. Dort fand ich eine angespannte Stimmung kurz vor den Präsidentschaftswahlen, die schließlich Nicolas Sarkozy gewann, vor. Der hatte die jugendlichen Bewohner der Cités vorher als „racaille“ beschimpft und ihnen gedroht, sie „wegzukärchern“. Am Tag seines Sieges flammte der Aufstand kurz auf. Ein paar Jugendliche machten sich einen Spaß daraus, indem sie Sarkozy-Masken trugen und auf Autos herumsprangen. Doch es blieb verhältnismäßig ruhig. Bis sich am vergangenen Wochenende die Wut einmal mehr entlud und eine Gruppe von Randalierern in der Grenzgemeinde einen Brandanschlag auf das Rathaus verübten. Der Schaden beträgt etwa eine Million Euro. Bürgermeister Serge de Carli erhielt Personenschutz.

Selbstzerstörung oder Widerstand?

Die Wut staut sich weiter an und zeigt manchmal eine hässliche Fratze. Was etwa der Filmemacher Ldj Ly in „Les Misérables“ von 2019 veranschaulicht. Auch er beruht auf wahren Begebenheiten, inspiriert wurde er von den Ereignissen 2005. Er zeigt unter anderem den Alltag von Polizisten in Montfermeil in Seine-Saint-Denis, aber auch, wie die Muslimbruderschaft in dem Viertel allmählich an Bedeutung gewonnen hat und wie sich die explosive Mischung allmählich zuspitzt und entlädt. Nach den Ereignissen von 2005 wurde Montfermeil besonders gefördert. Doch was wurde nicht alles versucht in den Banlieues, die in den 60er und 70er Jahren als urbane Modelle der Zukunft entstanden waren. Die Hochhaustürme galten als architektonisch vorbildlich, längst sind einige baufällig und wieder abgerissen worden. Einerseits sollten dort ursprünglich sowohl Franzosen als auch die Gastarbeiter aus dem Maghreb billigen Wohnraum erhalten, um sie aus den „bidonvilles“ zu holen. Doch das Konzept der Stadtplaner von der Assimilierung ging nicht auf. Die Franzosen verließen die Trabantenstädte wieder, zurück blieben die Migranten.

Zwar wurden seit den 80ern Zentren für Fortbildungen und andere Anlaufstellen eingerichtet, Ausbildungs- und andere Arbeitsplätze geschaffen oder subventioniert, Sozialarbeiter eingestellt und deren Arbeit mit mehr Mitteln ausgestattet. Le Corbusiers Vision von der Wohnmaschine ist längst zum Albtraum geworden, das immer wieder Ungeheuer gebiert. Die futuristischen Wohnblöcke sind verslumt. Die Krawalle haben wieder genügend Sozialwissenschaftler auf den Plan gebracht. Auch Kunstprojekte wurden ins Leben gerufen. Doch viele Bewohner der Vorstädte fühlen sich nach wie vor ausgegrenzt. Nach den Anschlägen von Paris 2015 und Nizza 2016 wurden die rund 1.500 „Quartiers prioritaires“ – ein Begriff, der 2015 die „Zone urbaine sensible“ ablöste – zu Brutstätten des islamistischen Terrors abgestempelt. Für die einen sind sie Orte der Selbstzerstörung, für die anderen – wie etwa für den uruguayischen Journalisten und Theoretiker Raúl Zibechi – „Territorien des Widerstands“. Mathieu Kassovitz hat einmal einen interessanten Vergleich gezogen: In einem Film mit der Schauspielerin Arletty sagt ein Mann zu dieser: „Wie schön du bist.“ Darauf antwortet sie: „Ich bin nicht schön. Ich bin lebendig.“ Genauso, sagt Kassovitz, sei es mit der Banllieue.

Emile Müller
5. Juli 2023 - 12.09

Die Frage ist doch, warum herrscht in sovielen Ländern für die Jugendlichen "Perspektivlosigkeit" und was bedeutet dies überhaupt? Wir haben nun mal dort eine hohe Arbeitslosigkeit, da viele Jobs zu hohe Anforderungen setzen, aber viele Jugendliche auch nicht mehr gewollt sind sich in irgendwelche Arbeit zu knieen und sich etwas aufzubauen. Hinzu kommt dass dank "Sozialen Medien" die Dummheit und die Gewalt, sowie Fehlinformationen sehr schnell und weit an Jugendliche verbreitet werden und sie so mehr Anschluss an gleichgesinnte, sprich genau so dumme wenn nicht noch dümmere Leute finden. Hierdurch müssen sie sich nie mit ihrer Realität und ihrem Verhalten auseinander setzen und erliegen diesem falschen Denkmustern bis sie selbst daran glauben, dass sie keine Perspektive haben und nur Gewalt und Kriminalität die Lösung sind.... Klar ist das werfen von Brandsätzen und das Plündern von Geschäften an 3 Abenden in der Woche einfacherer als einige harte Jobs von 5 - 15 h aber dass bedeutet nicht, dass die jugendlichen Perspektivlos sind, sie sind meistens nur Motivationslos und denken es würde ihnen geholfen, sie müssten nicht den ersten Schritt machen, dies ist aber niemals der Fall.

Nomi
4. Juli 2023 - 10.58

Den Problem an Frankreich ass hiren Presidialsystem. Ee Presidialsystem kennt enger Diktatur ganz no ! Bei den Wahlen ze vill Abstentionisten. Daat feiert dozo'u dass den President mat 16% vun den angeschriwenen Wiehler eng Majoritei't bei der Washl huet. Keen Aaneren huet mei! Mee direkt huet hien awer 84% vun den angeschriwenen Wiehler an doriwer raus an der Oppositio'un. An daat fei'ert zu Revolten fir Alles waat den President well machen. Eng Leisung wir, een Parlamentareschen System obzesetzen wou' eng Koalitio'un awer direkt 60-65% vun der Wiehlerschaft representei'ert !