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TragödieAus drei mach eins: „Ödipus/Antigone“ im Grand Théâtre

Tragödie / Aus drei mach eins: „Ödipus/Antigone“ im Grand Théâtre
Nachdem Iokaste (Jaqueline Macaulay) erfahren hat, dass Ödipus ihr Sohn ist, wählt sie den Freitod Foto: Bohumil Kostohryz

Mit „Ödipus/Antigone“ wurde ein berühmter antiker Tragödienzyklus zu einem einzelnen Stück zusammengeschnürt. Die Geschichte vom verfluchten König Ödipus und seinen Nachfahren erzählt die Theaterproduktion gut nach – einen Glanzpunkt lässt sie jedoch vermissen.

Durch Sigmund Freud hat die Figur des Ödipus ein Revival erlebt. Der Ödipus-Komplex dürfte einer der psychoanalytischen Begriffe sein, die außerhalb von therapeutischen Fachkreisen die größte Bekanntheit erlangt haben – eben weil er auf so empfindliche Weise an ein Tabu rührt, das für den französischen Ethnologen Lévi-Strauss den Übergang von der Natur zur Kultur markiert: das Inzestverbot, das Unterbinden sexueller Beziehungen zwischen engen Verwandten und das Unterdrücken von entsprechenden Fantasien. Das Verbot ist so tief in unserer Gesellschaft verankert, dass Geschichten oder Namen, die es aufrufen, auf diesen so skandalösen Aspekt reduziert zu werden drohen.

So ist die Hauptfigur von Max Frischs Roman „Homo Faber“ bei Schülern allgemein bekannt als „der Typ, der mit seiner Tochter schläft“ und der Ödipus-Komplex, „hat damit zu tun, dass man mit seiner Mutter (oder seinem Vater) schlafen will“. König Ödipus demgemäß ist „der Mann, der mit seiner Mutter ins Bett steigt und vier Kinder mit ihr zeugt“. Dabei steht dieser Aspekt des Ödipus-Mythos symbolisch für die Frage nach der Unausweichlichkeit des Schicksals und dem Vorhandensein der menschlichen Willensfreiheit. Je mehr Ödipus versucht, sich aus dem Klammergriff der Vorhersehung zu befreien, desto mehr verstrickt er sich in Schuld. Dieser unerbittliche Determinismus dürfte gerade einem modernen Publikum, das mit der mittlerweile durchkapitalisierten Mit-festem-Willen-ist-alles-möglich-Mentalität aufgewachsen ist, sauer aufstoßen. Erst durch Antigone, die bewusst den Tod wählt, scheint sich das Verhältnis von Fatum und freiem Willen umzukehren, doch der Ausgang der Geschichte um das Herrschergeschlecht der Labdakiden bleibt katastrophal.

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