Folgende Situation: Arlo Parks liegt im Bett ihres Hotelzimmers in Toronto. Es ist drei Uhr morgens, doch sie ist hellwach und kann nicht schlafen, als ihr plötzlich das Gitarrenriff zum Refrain ihrer neuen Songskizze „Dog Rose“ einfällt. Wie von der Tarantel gestochen springt sie aus dem Bett, verlässt wenige Minuten später das Hotel, rennt durch mehrere Parks, überquert Brücken, um zum ungefähr 15 Häuserblocks entfernten Bandbus zu gelangen und ihre Gitarre zu holen. Zurück im Hotel, hält sie die Idee fest und nimmt die erste Demo-Version des Liedes auf.
Das zeigt, mit welcher Leidenschaft und inneren Getriebenheit, aber auch mit welcher Detailversessenheit die junge Engländerin an ihr Songwriting herangeht. Nun liegt ihr zweites Album „My Soft Machine“ vor und ist nach ihrem großartigen Debütalbum „Collapsed In Sunbeams“, mit dem sie den auf der Insel sehr begehrten Mercury Prize einheimste, erneut ein sehr gutes geworden, mit dem die 21-Jährige ihre Kunst zweifellos weiterentwickelt hat. War der „Bedroom“-Pop des Vorgänger-Albums noch ziemlich schlicht, Lo-Fi gewesen, ist nun alles opulenter, breiter, elektronischer, tanzbarer, aber immer noch luftig, fluffig und sehr, sehr gefühlvoll.
L.A is her Lady
Parks hat sich in ihrer neuen Wahlheimat Los Angeles die Amerikanerin Phoebe Bridgers ins Studio geholt, der zurzeit eh alles gelingt. Seit Jahren Dauergast und -abräumerin bei den Grammys, hat sich die Indie-Rock-Musikerin in letzter Zeit durch ihre Zusammenarbeit mit Conor Oberst und The National hervorgetan und wurde im März 2023 als eine von zwölf Frauen in die Liste der Women of the Year aufgenommen. Nun hat sie sich auf Parks’ Track „Pegasus“ verewigt, auf dem beide mit sphärischen Dance-Lounge-Ambient-R&B-Sounds experimentieren und stimmlich nahezu miteinander verschmelzen. Soundtechnisch habe man sich, so die Engländerin, bei diesem Track stark an „Talk Down“ von Dijon und „Grieve Not The Spirit“ von Air (feat. Googie) inspiriert.
Produzent Paul Epworth, der sich durch seine Arbeit mit Adele und Florence & The Machine einen Namen gemacht hat, hat mit Sicherheit einen großen Anteil an diesem betörenden neuen Sound, von dem man sich, zusammen mit der reinen, kindlichen Stimme der Sängerin, nur zu gerne entspannt davontragen lässt wie der schwarze Drachen, den sie auf dem Cover steigen lässt. Doch Vorsicht: Unter der Zuckerwatte lauern schonungslos offene, fragile Texte über Missbrauch („Almost everyone that I love has been abused, and I am included”), Ängste, Einsam- und Verletzlichkeit, Homosexualität.
Prince und My Bloody Valentine lassen grüßen
In „Devotion“, das die Engländerin nach eigenem Bekunden geschrieben hat, nachdem sie mit ihren Freundinnen im Arts District of L.A. unterwegs gewesen war und sie sich an Princes Song „17 Days“ berauscht hatten, zeigt sie weitere neue Facetten. Hier jaulen plötzlich laute verzerrte Gitarren auf und es wird gegen Ende richtig rockig, was ihrem Sound ebenfalls guttut. Auch „Puppy“ schlägt in die gleiche Kerbe. Obwohl hier die Fuzz-Gitarre von einem Synthesizer erzeugt wird, atmet der Song die Energie von My Bloody Valentines „Loveless“-Album. Und selbst wenn unverzerrte Gitarren an die Stelle der doch dominanten Synthies treten, setzt die Magie ein, wie im Track „Purple Phase“, bei dem Produzent Epworth persönlich zur Klampfe greift.
Mit dieser Scheibe kann man in den Sommer tanzen! „My Soft Machine“ ist, wie es scheint, eine Metapher für den weiblichen Körper und hat rein gar nichts mit der Prog-Rock-Institution der 60er und 70er gleichen Namens zu tun, doch, wer weiß, vielleicht gefällt das Album sogar dem genialen Robert Wyatt, ihrem Mitgründer, der immer offen für musikalische Experimente war.
Anspieltipps: Devotion, Blades, Pegasus
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