Tageblatt: Herr Ratti, in Luxemburg sind laut Arbeitnehmerkammer 13 Prozent der Menschen trotz Arbeit vom Armutsrisiko betroffen. Warum ist das so?
Luca Ratti: Das ist schwer zu erklären. Arbeitsarmut ist ein relatives Maß. Wenn wir Armut in absoluten Zahlen messen, verwenden wir einen anderen Begriff, nämlich materielle Unterversorgung. Die schwere materielle Unterversorgung – und damit die „schlimme Armut“ – ist in Luxemburg im Vergleich zu anderen Ländern sehr gering. Die Arbeitsarmut ist allerdings ziemlich hoch. Dafür gibt es viele Gründe. Das Steuersystem ist eine Komponente davon – und auch die Wohnungspreise.
Prof. Dr. Luca Ratti
Luca Ratti ist Professor für europäisches und vergleichendes Arbeitsrecht an der Universität Luxemburg. Ratti lebt seit 2015 in Luxemburg – davor arbeitete er an der Universität in Bologna. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Leiharbeit und befristeter Vertragsarbeit.
Seit er in Luxemburg ist, arbeitet er auch an den Themen digitale und Plattformarbeit. Er beschäftigt sich außerdem intensiver mit Arbeitsarmut und Mindestgehalt. Seit Februar 2020 koordiniert er beispielsweise das Projekt „WorkYP: Working, Yet Poor“, das sich mit Armutsrisikos bei arbeitenden Menschen beschäftigt (2020 bis 2023).
Derzeit hat er einen Jean-Monnet-Lehrstuhl für europäisches Arbeitsrecht inne, um über die Nachhaltigkeit des europäischen Sozialmodells zu forschen und zu lehren (2022 bis 2025).
Wird die Situation schlimmer?
Wahrscheinlich ja, aber das kann ich noch nicht sagen, weil die statistischen Daten fast anderthalb Jahre nach dem Bezugsjahr veröffentlicht werden. Statec veröffentlicht sie in der Regel im Oktober für das Vorjahr. Einkommensunterschiede machen die Bürger jedenfalls anfälliger für wirtschaftliche Schocks, was in der Geschichte Europas zwar schon vorgekommen ist, aber früher doch eher selten war. In letzter Zeit werden diese Schocks immer häufiger.
Was könnte Luxemburg tun, um dem entgegenzuwirken?
Es ist nicht so, dass man einen Knopf drückt und das Phänomen verschwindet. Ich würde sagen, dass man zuallererst ein gutes System von Mindestlöhnen haben sollte – aber das gibt es in Luxemburg schon. Und um die Arbeitsarmut zu verringern, muss normalerweise der Sozialstaat eingreifen. Das bedeutet in der Regel Maßnahmen für Haushalte. So haben sich zum Beispiel Kindergeld oder andere familienbezogene Leistungen als wirksam erwiesen. Natürlich ist auch die Senkung der Wohnkosten eine gute Strategie.
Es scheint, als würde Luxemburg die meisten dieser Dinge tun – mit Ausnahme der Wohnkosten. Warum ist die Situation noch immer so schlecht?
Das ist eine sehr gute Frage. Es dürfte mit der Struktur der luxemburgischen Einkommen zusammenhängen. Da der Medianlohn recht hoch ist und die Wohnkosten ebenfalls recht hoch sind, bedeutet dies, dass es für diejenigen, die den Mindestlohn verdienen, recht schwierig ist, einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen.
Wenn wir also die Probleme auf dem Wohnungsmarkt lindern könnten, wäre alles in Ordnung?
Auf jeden Fall. Das Arbeitsleben ist heute per Definition unstetig. Aber wenn der kurzweilige Verlust eines Arbeitsplatzes schon bedeutet, dass man sein Haus verlassen muss, dann haben wir ein Problem. Mit bezahlbarem Wohnraum werden zumindest die Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, oder diejenigen, die nur unregelmäßig arbeiten, weniger Schwierigkeiten haben.
Wie beurteilen Sie die Arbeit der Regierung in diesem Fall?
In meinem Bereich, im Bereich des Arbeitsrechts, hat sich in letzter Zeit nicht wirklich viel geändert. Die Gesetzgebung ist recht stabil. Es wurde keine besondere Reform durchgeführt, die eine systemische Auswirkung hatte und eine besondere Bewertung verdient.
Wie würden Sie die Arbeitsbedingungen in Luxemburg derzeit generell bewerten?
Aus rechtlicher Sicht ist das System sehr gut konzipiert und funktioniert in der Regel gut. Es gibt einen recht hohen Arbeitsplatzschutz und gute Systeme gegen ungerechtfertigte Entlassungen. Die Gesetzgebung ist relativ klar, sodass die Menschen ihre Rechte kennen. Und es gibt ein System der Kollektivverträge, das recht gut funktioniert. Auch der Geltungsbereich der Kollektivverhandlungen ist recht gut.
Und wo sehen Sie Verbesserungsbedarf?
Überall in Europa herrscht ein Arbeitskräftemangel. Das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage erfordert langfristige politische Strategien. Es ist nicht nur wichtig, neue Leute anzuwerben, sondern auch, die hier arbeitenden Menschen umzuschulen.
Sind Sie der Meinung, dass die Bemühungen des Staates in dieser Hinsicht ausreichen?
Es gibt Initiativen, die gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Kammern durchgeführt werden. Aber es ist sehr schwierig, weil sich die Arbeitsmärkte schnell verändern – vor allem durch die Digitalisierung.
Die Digitalisierung hat uns auch Plattformarbeit gebracht. Wie ist die Situation in Luxemburg?
In anderen Ländern ist die Plattformarbeit explodiert. Sie hat sogar die Struktur der Städte verändert. Das luxemburgische Gesetz sagt dazu noch nichts, einfach, weil das Phänomen viel später als in anderen Ländern begonnen hat. Wir warten alle auf Richtlinien zur Plattformarbeit, die derzeit diskutiert werden, aber es ist noch ein sehr langer Weg bis zur Verabschiedung. Die Frage ist: Wie definiert man Plattformarbeiter? Sind sie Selbstständige? Sollten wir ihnen den Mindestlohn geben? Sollten wir ihnen Sozialversicherungsrechte geben?
Luxemburg wartet also auf die europäische Richtlinie?
Im Dezember 2021 legte die Europäische Kommission einen entsprechenden Richtlinienentwurf vor. Es war ein sehr innovativer und ehrgeiziger Text. Das Europäische Parlament hat dann, vor ein paar Monaten, einen neuen Text angenommen, der noch ehrgeiziger ist. Doch das ging nach hinten los, denn als der Text auf dem Tisch des Rates ankam, waren mehrere Länder komplett dagegen. Wir wissen nicht, ob sie in der Lage sein werden, einen Text zu verabschieden, bevor die schwedische Präsidentschaft Ende Juni endet. Wenn bis dahin nichts passiert, geht die Geschichte von vorn los.
Luxemburg prüft derzeit die Möglichkeit einer Arbeitszeitverkürzung. Was sind die Vor- und Nachteile?
Sie ist besser für eine ausgewogene Work-Life-Balance. Der größte Nachteil liegt in der Höhe der Gehälter. Es wäre seltsam, sich vorzustellen, dass das Gehalt gleich bleibt – jemand müsste das bezahlen. Für den Staat wäre es eine gewaltige Investition, diesen Beitrag zu übernehmen. Es wäre sinnvoller, in ein gutes Kindergeld zu investieren. Der andere strittige Punkt ist die Produktivität und das Beschäftigungsniveau. Kurzfristig hätte es vielleicht einige positive Auswirkungen auf die Beschäftigungsrate, aber ich glaube nicht, dass Luxemburg seine Beschäftigungsquote wirklich verbessern muss.
Sie haben es selbst gesagt: Uns fehlen ohnehin schon Fachkräfte.
Eben. Und es ist nicht so, als ob man wegen der Arbeitszeitverkürzung mehr Arbeitskräfte nach Luxemburg bekommt. Die Attraktivität eines Landes hängt eher von anderen Aspekten ab.
Was macht einen Arbeitsplatz denn attraktiver für Arbeitnehmer?
Ich habe von einigen Arbeitgebern gehört, dass die Menschen offenbar nach Flexibilität suchen. Beispiel: Homeoffice. Das ist anscheinend die zweite Frage, die Arbeitssuchende im Jobgespräch stellen. Das ist verständlich, denn im Gegensatz zu einer pauschalen Kürzung der Arbeitszeit bedeutet Telearbeit, dass man nicht reisen muss und trotzdem arbeitet. Luxemburg ist in dieser Hinsicht recht fortschrittlich, denn es gibt einen Rahmen, der normalerweise durch Tarifverträge usw. geregelt ist.
Und wie wichtig ist das Gehalt?
Es ist immer noch der wichtigste Teil. Ein gutes, angemessenes Gehalt – und nicht unbedingt ein Spitzengehalt – ist mit Würde verbunden. Es geht nicht nur darum, Geld zu bekommen. Ein gutes Gehalt ist das, was den Menschen hilft, ihre Arbeit zu schätzen.
Künstliche Intelligenz wird eine wichtige Rolle in der Arbeitswelt spielen. Welche Auswirkungen wird sie Ihrer Meinung nach haben?
Sie hat schon jetzt einen großen Einfluss und trifft zum Teil bereits Entscheidungen für Arbeitgeber – das wird in Zukunft noch häufiger der Fall sein. Daher muss das Gesetz entweder diese vom System getroffenen Entscheidungen verbieten oder den Arbeitnehmern und ihren Vertretern sehr weitgehende Verfahrensrechte einräumen, wie zum Beispiel volle Transparenz.
Sind wir – bzw. die EU – zu langsam bei der Einführung von Gesetzen in Bezug auf KI?
Nun, Gesetze sind immer langsamer als soziale Phänomene. Das ist eine Tatsache. Aber es ist auch eine Tatsache, dass die Gesetze vergleichsweise schnell eingeführt werden. Die Richtlinie über die Plattformarbeit zum Beispiel. Denn wir hatten in anderen entwickelten Volkswirtschaften nicht viele Beispiele für die Gesetzgebung, außer vielleicht im amerikanischen Bundesstaat Kalifornien. Die EU-Gesetzgebung versucht zu tun, was nötig ist, kann aber nie sofort eingreifen. Die KI ist jetzt überall und es ist jetzt an der Zeit, einzugreifen. Soweit ich verstanden habe, wird das auch diskutiert.
Wie besorgt sollten wir darüber sein, dass KI unsere Arbeitsplätze übernimmt?
Ich bin kein Fan von der Behauptung, dass die Technologie unsere Arbeitsplätze übernehmen wird. Für die große Mehrheit wird es eine Frage der Anpassung sein. Der Arbeitnehmer wird sich also an neue Bedingungen anpassen. KI wird wahrscheinlich nie alle Menschen ersetzen.
Aber wird diese Entwicklung hauptsächlich den Arbeitnehmern oder den Arbeitgebern zugutekommen?
Die KI-Systeme werden von den Unternehmen eingesetzt. Ich würde sagen, dass sie für den Arbeitgeber von Vorteil sein sollten – ob sie für die Arbeitnehmer von Vorteil sind, weiß ich nicht. Wenn KI ihnen repetitive Aufgaben abnimmt, würde das ihre Produktivität und ihre Freude an der Arbeit steigern. Aber natürlich sind die Arbeitnehmer am meisten gefährdet. Eine Regulierung ist also definitiv notwendig.
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