„Apocalypse now“ für Frankreich bei der „Tour“

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Ein „apokalyptischer“ Tag in der Tour de France. Das Rennen musste wegen Hagelschauern und Schlammlawinen neutralisiert werden. Thibaut Pinot steckte auf, dann griff Egan Bernal an und nahm Julian Alaphilippe das Maillot jaune ab.

Von Petz Lahure

Die Tour de France, die in ihrer langen Geschichte Hunderte von Dramen erlebte, ist gestern um ein paar Geschichten reicher geworden. Nach all dem, was in den paar Stunden des Freitagnachmittags passierte, scheint die verrückteste Rundfahrt der letzten Jahrzehnte schon vor der dritten Alpenetappe, die heute von Albertville nach Val Thorens führt, entschieden.

Gesehen die grandiose Vorstellung des jungen Kolumbianers Egan Bernal an den Hängen des Col de l’Iseran, der höchsten Passstraße Europas (2.770 m), gibt es kaum noch Zweifel am Gesamtsieg des 22-Jährigen (geb. am 13.1.1997 in Bogota). Weil das Ineos-Team nun im Besitz des Maillot jaune ist, braucht es dieses nur noch zu verteidigen. Angreifen müssen die andern Bewerber, falls ihnen in der dünnen Luft der Berge die Lust daran nicht vergangen ist.

Bernals Angriff

Egan Bernal hatte den richtigen Riecher, als er sich gestern sechs Kilometer vor dem Gipfel des Iseran aus dem Staub machte und nicht mit seiner Attacke bis zur Schlusssteigung nach Tignes wartete. Wegen eines Unwetters, das in Val d’Isère und am Lac du Chevril niederging und die Straße, auf der die Fahrer passieren sollten, mit Hagelkörnern, Wasser und Schlamm übersäte, war die Strecke unbefahrbar geworden. Christian Prudhomme, der Direktor der Tour, Thierry Gouvenou, der Rennleiter, und die Kommissare um den italienischen Vorsitzenden Gianluca Crocetti, trafen daraufhin die einzige richtige Entscheidung: Die Etappe wurde oben auf dem Iseran neutralisiert, es zählen die Zeiten beim Passieren des Gipfels. Und weil Egan Bernal dort über zwei Minuten Vorsprung auf Julian Alaphilippe hatte, schlüpfte er ins Maillot jaune, das er (sauf accident) bis nach Paris verteidigen müsste. Sein Vorsprung auf den Franzosen beträgt 48 Sekunden.

Es macht jetzt keinen Sinn, des Langen und des Breiten darüber zu fachsimpeln, ob Alaphilippe seinen Rückstand in der Abfahrt eventuell verringert hätte oder ob Bernal danach im Schlussanstieg nach Tignes noch stärker geworden wäre. Gesehen die schlimmen Witterungsverhältnisse, mussten die Fahrer und ihre Gesundheit geschützt werden. Eine andere Entscheidung als die Neutralisierung der Etappe und die (manuelle) Zeitnahme oben auf dem Gipfel wäre auch vom Sportlichen her ungerecht gewesen.

In Sachen Neutralisierung wurden bei Ihrem Kolumnisten Erinnerungen wach an den Fahrerstreik vom 12. Juli 1978 oder an den „Wintertag“ vom 8. Juli 1996, als ein Schneesturm auf dem Galibier niederging und die Etappe Val d’Isère-Sestrière auf 48 km zusammengestutzt werden musste. Gestartet wurde in Monêtier-les-Bains, oben streifte Bjarne Riis nach seinem Etappensieg das Leadertrikot über und verteidigte es erfolgreich bis nach Paris.

Pinots Tränen

Dass ein Unfall bei einer Tour immer wieder möglich ist, wird am Beispiel Thibaut Pinot ersichtlich. Der „Überflieger“ der Pyrenäen, der neben Julian Alaphilippe dazu ausersehen war, Frankreich 34 Jahre nach Bernard Hinault endlich wieder einen Sieg beim größten Radrennen der Welt zu bescheren, stieg 36 km nach dem Start der 19. Etappe mit Tränen in den Augen vom Rad und steckte auf.

Der Leader des Groupama-FDJ-Teams litt seit zwei Tagen an einer Verletzung des inneren „Musculus vastus“, der oberhalb des Knies liegt. Das Unglück passierte, als Pinot auf der Etappe nach Gap versuchte, einem Sturz auszuweichen und mit dem linken Bein gegen den Lenker seines Rennrades schlug. Die Verletzung wurde im Team so gut wie möglich geheim gehalten. Am Donnerstag fuhr der Franzose noch relativ problemlos über Vars, Izoard und Galibier nach Valloire, doch gestern musste er sich schweren Herzens eingestehen, dass der Toursieg nicht in die Realität umgesetzt werden könnte.

Eine Premiere

Pinot begann das Rennen mit bandagiertem Oberschenkel, suchte aber nach 32 km den Wagen des Tourarztes auf, um den Verband entfernen zu lassen. Schon in dem Augenblick wusste man, dass der Pechvogel nicht mehr lange weitermachen konnte. Die Schmerzen wurden größer, und der Abstand zur Spitzengruppe wuchs so schnell an, dass Pinot bei km 36 die Waffen streckte. Es war seine 4. Aufgabe bei der Tour nach 2013, 2016 und 2017. Dreimal erreichte der Franzose die Champs-Élysées (2012: 10.; 2014: 3.; 2015: 16.)

Am Donnerstag, auf der Fahrt von Embrun nach Valloire, hatte es eine Zeit lang danach ausgesehen, als ob Julian Alaphilippe sein Maillot jaune schon einen Tag früher abgeben müsste. Der Gesamtführende war im Schlussteil des Anstiegs zum Galibier abgehängt worden, doch profitierte er von seinen Qualitäten als hervorragender Abfahrer, um fast alle direkten Rivalen auf den Gesamtsieg einzufangen und mit ihnen über den Zielstrich zu fahren. In dem Augenblick hatten allerdings schon zwei Kolumbianer Valloire erreicht, der eine, Nairo Quintana, nach einer langen Flucht, der andere, Egan Bernal, nach einem fulguranten Angriff am Col du Galibier, den niemand imstande war, zu kontern. Gestern, am Col de l’Iseran, wiederholte Bernal seinen Coup, doch konnte er wegen der Neutralisierung nicht als Etappensieger gefeiert werden. Eine Premiere in der 106-jährigen Geschichte der „Grande Boucle“.

„Olé Colombia“

Morgen Sonntag wollen seine Landsleute dem ersten kolumbianischen Tour-de-France-Gewinner einen begeisterten Empfang auf den Champs-Élysées bereiten. Seit 1975 endet die Tour de France auf der Prachtavenue. Die Idee hierzu soll der damalige Starjournalist von TF1 (JT 13 heures) Yves Mourousi gehabt haben. Insider rühmen sich, von einem nächtlichen Telefonat des Nachrichtenmoderators in den Élysée-Palast zu wissen.
Frankreichs Ex-Präsident Valéry Giscard d’Estaing dagegen behauptet, er höchstpersönlich stehe am Ursprung des finalen Wechsels von der tristen Zementbahn im „Bois de Vincennes“ auf den Prachtboulevard im Herzen der „Ville Lumière“. „Schon kurz nach Amtsantritt (27. Mai 1974) habe ich mich für die ,Champs, starkgemacht, doch konnte die Idee erst ein Jahr später in die Tat umgesetzt werden“, schreibt er in seinen Memoiren.