Es ist natürlich immer etwas ungewöhnlich, wenn ein Grabenorchester plötzlich auf der Konzertbühne steht und ein gänzlich anderes Repertoire spielen muss. Dies ist zweifelsohne sehr wichtig für Klanggestaltung und Flexibilität eines Klangkörpers. Allerdings wurde dies im großen Saal des CAPE etwas erschwert, da das Orchester in einer „Minimalbesetzung“ von rund 50 Musikern spielen musste, bedingt dadurch, weil die Bühne für ein groß besetztes Orchester einfach zu klein ist. Nach einer Gedenkminute für die Opfer des Ukraine-Kriegs durfte das Publikum eine in jeder Hinsicht überzeugende Interpretation des bekannten Violinkonzerts von Max Bruch erleben.
Die lettische Violinistin Kristine Balanas begeisterte ab der ersten Note mit einem souveränen und sehr gefühlvollen, aber niemals überzogenem Spiel. Dabei phrasierte sie mit einem guten Gespür für einen lyrischen Grundton, der ihrer Interpretation immer etwas Gesangliches einhauchte, was dem Werk auch sehr gut zu Gesicht stand. Technisch bravourös, klar und prägnant im Spiel und wunderbar empfindsam im Ausdruck, wird uns ihre Interpretation noch lange im Gedächtnis bleiben. Chefdirigent Sébastien Rouland, seit der Spielzeit 2018/2019 im Amt, erwies sich als ebenso umsichtiger wie temperamentvoller Dirigent. Vor allem hatte er seine Musiker fest im Griff. Seiner klaren Zeichengebung folgte das Orchester mit absoluter Präzision und erreichte somit eine innere musikalische Geschlossenheit, die es Rouland erlaubte, alle solistischen Stimmen klar herauszuarbeiten.
Sowohl bei Bruch wie auch bei Tschaikowskys 1. Symphonie begeisterten die Wärme und Schönheit der Holzbläser und der goldene Klang des Blechs. Beide Instrumentengruppen spielten so stark, dass es der eher klein besetzte Streicherapparat manchmal etwas schwer hatte, sich durchzusetzen. Was sicherlich auch zum Teil der recht trockenen Saalakustik zuzuschreiben war. Obwohl Rouland immer um eine optimale Klangbalance und ein klares, transparentes Spiel bemüht war, gelang das so bei Tschaikowskys Symphonie weniger gut als bei dem Bruch-Konzert.
Was dem Orchester allerdings noch im symphonischen Bereich fehlt, ist eine gewisse Leichtigkeit des Klanges, ein Verströmen der Musik und vor allem der große Atem. Manches wirkte in diesem Konzert recht harsch, blockartig und so auf den Punkt gebracht, dass die Musik einfach nicht ausschwingen konnte. Aber das ist wohl ein Problem vieler Opernorchester, die im Orchestergraben sehr kompakt, flexibel und punktgenau musizieren müssen, weil sie ja nie wissen, wie ein Sänger phrasiert und wie lange er einen Ton halten kann. Trotzdem war es ein Konzert, das, abgesehen von den wenigen Einwänden, in jedem Moment gelungen war und das gute Niveau dieses Klangkörpers bewies.
Carmen und der depressive Mann
Eine dominant erscheinende Frau bringt ihren depressiven Mann zu einer neuartigen Therapie. In einer steril wirkenden, wohlgeordneten Hotellobby muss der Mann nun an einer Art Psychodrama oder Rollenspiel teilnehmen, bei dem er seinen Frust und seine aufgestauten Aggressionen therapeutisch aufarbeiten soll. Als Therapie-Programm hat man „Carmen“ gewählt. Der depressive Mann wird zu Don José, alle anderen Personen sind Mitglieder dieser Therapiegruppe, eingeschlossen Carmen. Seine Frau, die ebenfalls mitspielt, wird zu Micaëla. Der anwesende Regisseur Dmitri Tscherniakov, der ebenfalls zusätzliche eigene Dialoge zum besseren Verständnis miteingebaut hat, erzählt diese neue Geschichte relativ konsequent und logisch und bringt den Mythos „Carmen“ in unsere Zeit.
Satt dem heißen Sevilla und der Taverne von Lillas Pastias gibt es kalte Marmorsäulen und Ledersitzgruppen. Der Mann durchläuft seine Therapie und kann sich vom Trauma der dominanten Frau zwar befreien, erleidet aber gerade durch die Therapie andere psychische Schäden. Wie in der Oper schließt auch Tscherniakows moderne Vision mit einem verzweifelten Don José. Tscherniakow überrascht immer wieder mit neuen, meist plausiblen Ideen und macht den Zuhörer bis zum Schluss neugierig. Einzig die effekthascherische Szene am Ende des ersten Aktes, wo plötzlich eine Sondereinheit der Polizei die Bühne stürmt, ist ebenso misslungen wie dramaturgisch überflüssig und stört den sonst relativ flüssigen Ablauf der Handlung. Für all jene, die moderne Inszenierungen und ihre Herausforderungen mögen, war Tscherniakows Inszenierung (Premiere: 4. Juli 2017 in Aix-en-Provence) ein Augenschmaus und eine Wohltat. Wer sich dagegen spanisches Kolorit, Schmuggler und Zigeuner erhofft hatte, wurde enttäuscht.
Schauspielerisch wie sängerisch war die Aufführung vom 6. März überdurchschnittlich. Abgesehen von dem etwas schmalbrüstigen Escamillo von Jean-Sébastien Bou waren die anderen drei Hauptpartien hochkarätig besetzt. Ann-Catherine Gillet war eine wundervoll expressive und sehr lyrische Micaëla und somit das Pendant zu der kraftvollen, aber nie überzogen wirkenden Carmen von Eve-Maud Hubeaux, die als Darstellerin die von ihr gespielte Figur der Carmen hervorragend distanziert porträtierte. Überragend, darstellerisch wie auch sängerisch war der Don José von Michael Fabiano, der diese Rolle bereits in der Premiere in Aix-en-Provence gesungen hatte. Auch die übrigen kleineren Rollen waren ausnahmslos gut besetzt. Spanisches Feuer gab es dann trotzdem. Und das kam aus dem Orchestergraben. Der spanische Dirigent José Miguel Pérez-Sierra sorgte für ein sehr dynamisches und spannendes Orchesterspiel, das trotz aller eruptiven Kraft von Pérez-Sierra immer sehr sängerfreundlich gehalten wurde. Mit Jubel und Standing Ovations wurden Tscherniakow und alle Mitwirkenden vom Publikum regelrecht gefeiert.
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