Heimat is where the heart is
„Riceboy Sleeps“ von Anthony Shim, mit u.a. Choi Seung-yoon und Ethan Hwang. Zu sehen im Ciné Utopia.
So-young ist Koreanerin und findet sich im englischsprachigen Kanada der frühen1990er wieder. Mit ihrem Sohn Dong-hyun, den sie alleine erzieht. Gleich zu Beginn des Films gibt eine sanfte Off-Stimme im „Es war einmal…“-Duktus dem Zuschauer zu verstehen, dass So-young nicht ganz aus freien Stücken nach Kanada immigrierte. Nach dem Freitod ihres psychisch gestörten Lebenspartners musste sie mit ihrem Neugeborenen Korea verlassen. Der Kleine, eine uneheliche Geburt, blieb die Staatsbürgerschaft verwehrt. Nordamerika ist aber auch nicht das pragmatische, praktische Märchenland. So-young und Dong-hyun sehen sich tagtäglich mit rassistischen und ausgrenzenden Wörtern und Dynamiken konfrontiert. Aber das Leben geht trotz aller Hindernisse seinen Weg. Wir begegnen die beiden später Ende der 90er wieder. Dong-hyun ist ein pubertierender 15-Jähriger geworden und So-young hat herzliche koreanische Kolleginnen bei der Arbeit und einen eventuellen Freund. Eines Tages kommt der Sohn mit der Hausaufgabe von der Schule, einen Familienstammbaum aufzustellen, und fängt an, Fragen zu stellen, die seine Mutter bis dahin immer gekonnt wegzudrücken wusste. Immer war ihr Blick in die Zukunft gerichtet. Bis ihr eines Tages diese gemeinsame Zukunft unter den Füßen weggerissen wird.
Anthony Shims Film ist es nach nur wenigen Augenblicken anzusehen und anzufühlen, dass Autobiografisches aufgearbeitet wird. Er ist selbst als Kind mit seiner Familie nach Kanada emigriert. Für seinen zweiten abendfüllenden Spielfilm stellt er seine sehr spezifische Lebenserfahrung in den Mittelpunkt und zeichnet ein universelles Porträt eines Schlag Menschen, der nicht notgedrungen aus Korea kommen und in Kanada leben muss. Shim war genau wie seine junge Figur im Film Zielscheibe von Hänseleien und die Familie Opfer von institutionellem Rassismus. Obwohl selbst erlebt, inszeniert er diese Situationen wie nebensächliche Beobachtungen, die unkommentiert im Raum stehen. Anthony Shim interessiert sich viel offensichtlicher für seine entwurzelten Charaktere. Jene, die ihr Leben zu meistern versuchen, derweil Heimat für sie ein abstraktes Konstrukt bleibt.
Shim und sein Kameramann Christopher Lew entschieden sich dafür, den Film in raue 16-mm-Bilder einzutauchen, und schenkten den Figuren ruhige und lang anhaltende Einstellungen, die oftmals mit ihnen durch die Wohnungsräume mitgehen. Hie und da erinnert das an die Arbeiten Emmanuel Lubezkis für Terrence Malick. Was bei Malick aber erhaben und göttlich sein will, ist in „Riceboy Sleeps“ elegisch und melancholisch und einem unausgesprochen Wunsch geschuldet, dem Mutter-Sohn-Gespann nahe zu sein. Ein Familiendrama, in dem das Drama klein- und die Familie großgeschrieben ist. Ein Film auch darüber, wie Eltern und Kinder aus- und wieder zueinander driften, oftmals, wenn es fast zu spät ist. Aber trotzdem. Heimat ist immer etwas Verlorenes, eine Sehnsucht, die sich nie erfüllen lässt, gab Regisseur Edgar Reitz einmal zu verstehen. Anthony Shim antwortet vielleicht damit, dass auch im Verlorenen etwas gefunden werden kann.
Nimm mich bei der Hand und stirb
„Talk to Me“ von Michael und Danny Philippou, mit u.a. Sophie Wilde und Miranda Otto. Zu sehen im Kinepolis Kirchberg.
Jede Generation hat ihr auf sie zugeschneidertes Pantheon an Horrorfilmen. „Talk to Me“ der australischen YouTuber und Brüder Philippou könnte so ein Film für die Zoomers werden. Das schreibt der Millennial, der aber auch weiß, dass YouTube längst keinen Platz im Leben der Generation Z hat.
Eine einbalsamierte Hand kann, wenn einmal angefasst und mit den Titelwörtern aktiviert, im Film Geister heraufbeschwören. Somit haben die australischen Jugendlichen den ultimativen Partytrick parat. Die kurzzeitige dämonische Besessenheit ist in diesem Fall nicht nur erstrebenswert, sondern wird sogar zum viralen Magneten. Dass dieses Pyjamaabend-Gruselspiel verheerende Folgen haben kann und wird, ist jedem klar, der während seiner Jugend Horrorfilme geschaut hat.
Die Regisseure liefern mit zum Teil sehr alten Bausteinen eine ordentlich und mit Fingerspitzengefühl modernisierte Horrormär, die sich nicht zu schade ist, mit sehr blutrünstigen (nicht computergenerierten) Effekten aufzulauern, ohne diese dabei in dämlichen Jumps-Scares zu verpulvern. Hier sind zwei junge Regisseure am Werk, die es verstehen, eine richtig gruselige Story zu inszenieren und überdurchschnittlich nachvollziehbare Figuren zu zeichnen. Allen voran ist die Newcomerin Sophie Wilde hervorzuheben, die die von Verlust und Trauer zerfressene Mia spielt. Sie ist „Scream Queen“, psychologischer Angelpunkt und Antagonistin zugleich. In anderen Worten: Sie trägt den Film auf ihren Schultern.
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