In Nordirland geht wieder die Angst um. Übers Wochenende tauchten an öffentlichen Stellen der Hauptstadt Belfast Plakate, mit den Daten wichtiger Polizeibeamter und prominenter Politiker auf. Die Einschüchterungsaktion unterstreiche die „sehr ernste Bedrohung“ für die Bediensteten der Polizeibehörde PSNI, erläuterte am Montag Gerry Kelly von der republikanisch-katholischen Sinn-Féin-Partei. Nach der katastrophalen PSNI-Datenpanne hatte bereits der protestantisch-unionistische Politiker Ian Paisley (DUP) eine Sondersitzung des britischen Unterhauses mit dem Hinweis gefordert, es handele sich um eine „Sicherheitsgefährdung von nationaler Bedeutung“.
Die Mitteilung von Polizeipräsident Simon Byrne verschlug vergangene Woche vielen Nordiren die Sprache: Die Behörde war nicht etwa Opfer eines Cyberangriffs ausländischer Mächte. Vielmehr hatte die eigene PSNI-Datenabteilung eine Liste sämtlicher Bediensteten mit Einsatzort und Dienststelle ins Internet gestellt. Dazu gehörten auch jene drei Dutzend Polizisten, die eng mit dem Inlands-Geheimdienst MI5 zusammenarbeiten, sowie eine kleine Gruppe von Menschen, deren Einsatzstelle schlicht als „geheim“ gekennzeichnet war.
Sonderrolle der Sicherheitsbehörden
Dass nun bei den mehr als 10.000 Betroffenen sowie deren Freunden und Angehörigen die Angst umgeht, hat mit der Sonderrolle der Sicherheitsbehörden in Nordirland zu tun. Der PSNI ging erst 2001 aus der früheren Royal Ulster Constabulary (RUC) hervor, im 20. Jahrhundert Herrschaftsinstrument der protestantischen Bevölkerungsmehrheit. Während der Unruhen der sechziger Jahre, die in den Bürgerkrieg mündeten, wurde die RUC mehr und mehr zur Zielscheibe terroristischer Anschläge durch die katholische IRA. Doch auch radikale Protestanten, sogenannte Loyalisten, schreckten nicht davor zurück, die Polizei anzugreifen.
Mehr als 300 Beamte verloren im Dienst ihr Leben. Gleichzeitig kam es immer wieder zu schweren Übergriffen der teils paramilitärisch organisierten Einheit, die noch Mitte der neunziger Jahre zu 93 Prozent aus Protestanten bestand. Eine Reform der Polizei gehörte deshalb zu den wichtigsten Forderungen der Nationalisten in den Friedensverhandlungen, die 1998 ins Belfaster Karfreitags-Abkommen mündeten.
Die bohrenden Fragen nach der Kompetenz der reformierten Polizei kommen ausgerechnet im Umfeld eines traurigen Jahrestages: Am Dienstag jährte sich zum 25. Mal der Bombenanschlag im Marktstädtchen Omagh (Grafschaft Tyrone). Vier Monate nach Unterzeichnung des Abkommens ermordeten dort am 15. August 1998 abtrünnige Republikaner von der Splittergruppe Real IRA 29 Menschen, darunter eine mit Zwillingen schwangere Frau, mit einer gewaltigen Autobombe. Hunderte wurden teils schwerverletzt. Zu den Opfern zählten zwölf Kinder und Jugendliche sowie spanische Touristen, die – wie auch die Bombenleger – zu einem Tagesausflug aus der nahen Republik Irland gekommen waren.
Kampf um Aufklärung
Der Ort trägt bis heute an den Folgen. „Unsere Stadt wurde auseinandergerissen“, sagte Michael Gallagher am Sonntag bei einer Feier in dem ebenso schlichten wie würdigen Gedenkgarten von Omagh. Der Vorsitzende der örtlichen Betroffenen-Initiative verlor an jenem Samstag seinen 21-jährigen Sohn Aidan; seither kämpfen Gallagher und dessen Mitstreiter vor Gericht um die umfassende Aufklärung des Verbrechens, für das bis heute niemand dauerhaft strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen wurde. „Für uns fühlt es sich an, als sei es gestern gewesen“, berichtete der um seine Frau Ann trauernde Stanley McCombe der BBC.
Ein Zivilverfahren vor dem Belfaster High Court gegen vier Real-IRA-Mitglieder machte das Quartett für das Verbrechen verantwortlich; den zwölf Verwandten unter Führung Gallaghers, die für die Zivilklage verantwortlich waren, wurden insgesamt 1,6 Millionen Pfund (1,86 Millionen Euro) Entschädigung zugesprochen.
Am Dienstag legten die Verwandten der Opfer Blumen nieder vor dem gläsernen Obelisken an der Market Street, wo vor 25 Jahren die Bombe einen roten Opel zerriss. Ihr Kampf um Aufklärung geht weiter: Das jüngste Verfahren vor dem High Court soll den britischen Nordirland-Minister Chris Heaton-Harris zu einer unabhängigen Untersuchung der Vorgeschichte von Omagh zwingen. Im Raum steht seit langem der Verdacht, dass dem britischen MI5 sowie irischen Sicherheitsbehörden umfangreiche Hinweise auf den geplanten Anschlag vorlagen, die nicht an die örtliche Polizei weitergeleitet wurden.
Klagewelle droht
Aktuell muss sich der PSNI um die Sicherheit der eigenen Bediensteten sorgen. Dass die Beamten bis heute einer erheblichen Gefährdung durch Paramilitärs und mit ihnen verflochtene organisierte Kriminelle ausgesetzt sind, zählte schon bisher zu den Selbstverständlichkeiten Nordirlands. So wurde im Frühjahr 2021 unter dem Auto einer jungen Polizistin eine Bombe entdeckt, als sie ihre damals dreijährige Tochter in den Kindergarten bringen wollte. Ob die Straftat von loyalistischen oder republikanischen Paramilitärs begangen wurde, blieb ungeklärt. In diesem Jahr schossen Bewaffnete am Rande eines Fußballtrainings einen hohen PSNI-Kriminaler vor den Augen von dessen Sohn sowie anderer Kinder nieder. Der lebensgefährlich Verletzte überlebte nur knapp.
Gleichzeitig rollt auf die Behörde eine Klagewelle zu. Der örtlichen Polizeigewerkschaft haben Hunderte von PSNI-Angehörigen signalisiert, sie wollten gegen ihren Arbeitgeber vorgehen. Zudem dürfte die Datenschutzbehörde eine Millionenstrafe verhängen.
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