Zum Interview in Esch kommt Marc Baum zu spät. Er stand mit vielen anderen zusammen im Stau. Ein Gespräch mit dem Spitzenkandidaten von „déi Lénk“ über Verkehr, Sozialismus, Herz und Verstand.
Tageblatt: Was halten Sie von einer Tram-Verbindung zwischen Esch und Luxemburg-Stadt?
Marc Baum: So schnell wie möglich! Wenn man François Bausch etwas vorwerfen kann, dann, dass er zwar viele Projekte weiter vorangetrieben hat, dass aber die Idee einer schnellen Tram längst da war und jetzt erst am Ende der Legislaturperiode auf den Tisch kommt. Damit sind wertvolle Jahre verloren gegangen.
Bei der Planung von Korridoren für einen BHNS („Bus à haut niveau de service“) sollte jetzt bereits daran gedacht werden, dass in einer zweiten Etappe Schienen verlegt werden können, ohne mit dem BHNS aufzuhören.
Ein Spruch besagt: „Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz, wer mit 40 noch Sozialist ist, keinen Verstand.“ Fehlt es Ihnen also an Verstand?
Ich glaube, dass ich sowohl Verstand wie auch Herz habe. Ganz im Gegenteil: Je älter man wird, umso öfter sieht man Dinge und stellt fest, dass die Antworten der Linken auf dringende Probleme oft die vernünftigsten und einleuchtendsten sind.
Sind das Dinge, die man in Luxemburg sieht? Oder geht es Luxemburg zu gut, als dass eine linke Partei ihren Platz hat?
Seit gut zehn Jahren haben wir Rückenwind. Als ich 2004 das erste Mal bei Nationalwahlen antrat, hatten wir 1,9 Prozent im Landesschnitt. Wir wachsen zwar moderat. Aber wir wachsen in einem steten Rhythmus und in eine bestimmte Richtung. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass wir die beiden wichtigsten Probleme im Land ins Zentrum unserer politischen Überlegungen stellen: die Frage der sozialen Ungleichheiten und die Frage der ökologischen Krise, die sich auch in Luxemburg immer mehr bemerkbar macht.
Sind die beiden dringlichsten Probleme in Luxemburg nicht Verkehr und Wohnen?
Die Wohnsituation ist Ausdruck der sozialen Ungleichheit. Mobilität ist auch ein Faktor der Ausgrenzung. Früher wurde exklusiv auf den motorisierten Individualverkehr gesetzt. Wir brauchen ein Umdenken.
Es ist Paradox: Um die Stadt Luxemburg herum gibt es Gentrifizierungserscheinungen. Menschen mit niedrigen Einkommen können sich dort nichts mehr leisten. Sie ziehen in den Süden oder in den Norden, weil es dort ein wenig billiger ist als im Zentrum. Gleichzeitig sind sie darauf angewiesen, ein Auto zu besitzen, weil der öffentliche Transport nicht genug ausgebaut ist. Das ist ein Teufelskreis. Mobilität ist in unseren Augen vor allem ein soziales Problem.
Ist „déi Lénk“ eine reine Oppositionspartei oder kann sie auch in die Regierung? Die KPL zum Beispiel wirbt ja darum, in die Opposition zu kommen.
Im Moment sind wir eine Oppositionspartei. Die Woxx hat ausgerechnet, dass 21 Prozent der Abstimmungen im Parlament mit 58 der Stimmen gegen zwei Stimmen ausgingen.
Damit sind wir mehr eine Oppositionspartei als die ADR. Was zum Beispiel die Steuerpolitik oder den Finanzplatz angeht, haben wir eine andere Position.
Das muss nicht bis in alle Ewigkeit so bleiben. Uns geht es eigentlich ja darum, andere gesellschaftliche Kräfteverhältnisse herzustellen. Wenn ich sehe, dass sich eine LSAP programmatisch wieder mehr nach links bewegt, dann hat das auch mit dem Druck zu tun, den wir versucht haben, im Parlament und außerhalb vom Parlament aufzubauen.
Etienne Schneider sagt, eine Stimme für „déi Lénk“ sei eine Stimme, die der Linken verloren geht. Ihre Meinung dazu?
Ich würde sagen, eine Stimme an Etienne Schneider ist eine Stimme, die der Linken verloren geht. Er repräsentiert nicht die Werte der Linken. Die LSAP hat das Problem, dass sie programmatisch eigentlich nach links gerückt ist und wieder angefangen hat, über Arbeitszeitverkürzungen und Mindestlohnerhöhungen zu diskutieren. Gleichzeitig hat sie einen Spitzenkandidaten, dem man das nicht abnimmt.
Heute hat die LSAP die sechste Urlaubswoche im Wahlprogramm. Als es vor acht Monaten in einer Kommission im Parlament um die Einführung der sechsten Urlaubswoche ging, sagte Etienne Schneider: „Arbeitszeitverkürzung? Ich bin sicherlich falsch verstanden worden, wenn man glaubt, es ginge darum, eine 35-Stunden-Woche einzuführen. So ein Wort würde ich nie in den Mund nehmen.“ Formal hat er recht. Sie fordern eine 38-Stunden-Woche. Allerdings ist das eine strukturelle Reduzierung der Wochenarbeitszeit. Etwas, das für Etienne Schneider vor neun Monaten nicht denkbar gewesen wäre. Das sind Widersprüche, die die LSAP intern klären muss.
Wie kann „déi Lénk“ nun doch schon relativ lange existieren, ohne sich zu zerlegen, wie es bei linken Parteien oft der Fall ist?
Diejenigen, die schon länger dabei sind, wissen, wie schlimm so etwas sein kann. 2004 haben interne Streitereien dominiert und es kam sogar zu einer Spaltung. Die kleine Knospe „déi Lénk“, die 1999 erst gegründet wurde, musste fünf Jahre ohne Ressourcen und ohne parlamentarische Vertretung auskommen. Das war uns insofern ein Lehre, dass wir versuchen, bei internen Widersprüchen einen Konsens zu finden. Wir tragen Konflikte durchaus aus, versuchen aber, sie nicht nach außen zu tragen, und pflegen eine respektvolle interne Diskussionskultur.
Ist die ADR die Nemesis der Linken oder fehlt es Luxemburg dafür an einer richtigen rechten Partei?
Die ADR ist dabei, sich in diese Richtung zu bewegen. Ein wirklicher Gegner mit öffentlichen Aussagen, die von einigen Kandidaten gemacht werden, die untragbar sind – die außerhalb von dem sind, was die luxemburgische demokratische Kultur bislang gekannt hat. Gleichzeitig probiert die Parteiführung den Spagat, mit rechtem Populismus und Ausländerfeindlichkeit zu kokettieren, ohne es beim Namen zu nennen.
Im Gegensatz zu anderen Parteien nehmen die Mitglieder von „déi Lénk“ öfters an Demonstrationen von Gewerkschaften teil. Was ist der Hintergrund? Marketing?
Viele unserer Mitglieder sind in Gewerkschaften engagiert. Das ergibt sich ganz natürlich. Ich war zum Beispiel der einzige Abgeordnete, der an der Demonstration der Bauarbeiter vor ein paar Monaten teilgenommen hat. David Wagner war nicht da, weil er krank war. Das sind aber keine Wähler. Für viele Politiker ergibt es keinen Sinn, sich dort zu zeigen, weil diese Menschen hier kein Wahlrecht haben. Ich kann als Politiker daraus also keinen direkten Nutzen ziehen.
Ich sehe das aber so: Als Abgeordneter bin ich für das ganze Land verantwortlich. Das steht in der Verfassung. Das gilt für alle Menschen, die hier leben, egal ob sie das Wahlrecht haben oder nicht. Ich glaube, dass diese Sicht uns von anderen unterscheidet, die mehr bzw. nur elektoralistisch denken.
Hat „déi Lénk“ von der Finanzkrise und der Schuldenkrise in Europa profitiert?
Ich glaube, die Finanzkrise war ein Punkt, an dem viele Menschen angefangen haben, sich Fragen über die Funktionsweise unserer Wirtschaft zu stellen. Dass wir bei den Wahlen 2009 Rückenwind hatten, hatte sicherlich auch mit dem Nicht-Funktionieren des Kapitalismus und des Kapitalismus à la luxembourgeoise zu tun. Wenn wir systemkritisch wären, das System aber wunderbar funktionieren würde, dann hätten wir keine Daseinsberechtigung.
Auch jetzt noch: Die Krise ist vorbei und die Wirtschaft brummt. Trotzdem steigt die Armut relativ und in absoluten Zahlen. Gerade wenn die Wirtschaft brummt, die Menschen aber trotzdem Probleme haben, über die Runden zu kommen, dann stimmt etwas nicht mit dieser Organisationsform der Wirtschaft – der Art und Weise, wie wir wirtschaften.
Sie haben gerade den „Kapitalismus à la luxembourgeoise“ erwähnt. Wie würde der „Sozialismus à la luxembourgeoise“ aussehen?
Er würde seinen internationalistischen Charakter nicht nur behalten, sondern offenbaren. Er würde die vielen Sprachen, Kulturen und die ganz unterschiedlichen Menschen, die es hier gibt, als einen wirklichen Reichtum begreifen. Weil die Menschen zum gesellschaftlichen Reichtum beitragen, wären sie Teil der Gesellschaft.
Darin würde er sich von einem französischen oder deutschen Sozialismus unterscheiden. Dort gibt es nicht die Präsenz von so vielen Kulturen und auch Sprachkulturen wie hier. Und das ist absolut erhaltenswert.
Virun de Wahlen geet alles,
durno gëtt virun gepennt.