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„Alle wollen nach England“: Belgien als Durchgangsland für Migranten

„Alle wollen nach England“: Belgien als Durchgangsland für Migranten
Calais im Februar 2018: Migranten erhalten Essen und Getränke von Aktivisten. Foto: DPA

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Der «Dschungel von Calais» in Frankreich ist Geschichte. Allerdings hoffen auch in Belgien viele Migranten auf die Überfahrt nach England. Wird Brügge zum «neuen Calais»?

Fernand Maréchal seufzt, zuckt mit den Schultern. «Jeden Tag beleidigen die Leute mich.» Gerade erst hat der Belgier Schilder mit heftigen Anfeindungen aus seinem Vorgarten geholt, stapelt sie, räumt sie beiseite. Der 70-Jährige ist Pastor in Zeebrugge, Teil und «Hafenviertel» des malerischen Brügge an der belgischen Küste. Seit gut drei Jahren hilft er Migranten, die von einem neuen Leben träumen. Flüchtlingen, deren Hoffnung weiter im Norden liegt, jenseits der belgischen Küste in Großbritannien.

«Das ist das einzige Problem, das wir in unserer luxuriösen Stadt haben», sagt Brügges Bürgermeister Renaat Landuyt von der sozialdemokratischen Partei über die Migranten auf der Durchreise. Er will vor allem verhindern, dass in seiner Stadt ähnliche Zustände herrschen, wie es sie im französischen Calais gab.

Im sogenannten Dschungel von Calais, einer im Wildwuchs entstandenen Baracken- und Zeltsiedlung am Ärmelkanal, hatten zeitweise bis zu 8000 Migranten gehaust. Die französischen Behörden hatten das Hafengelände und den Zugang zum Eisenbahntunnel nach Großbritannien immer schärfer abgeriegelt – und die Elendssiedlung im Oktober 2016 geräumt. Seitdem geht die Polizei gegen Versuche vor, neue Behelfsunterkünfte zu errichten. «Auf keinen Fall werden wir zulassen, dass es in Calais einen neuen Dschungel geben wird», sagte Staatschef Emmanuel Macron Anfang des Jahres.

Migranten: Für manche ein Problem, für andere eine Mission

Dadurch ist das Thema in Frankreich etwas von der Bildfläche verschwunden – auch wenn Migranten auf dem Weg nach England weiter ihr Glück in Nordfrankreich versuchen und dort unter sehr prekären Umständen leben. Erst Anfang September hatte die Polizei wieder ein Camp bei Dünkirchen geräumt. Hilfsorganisationen klagen regelmäßig über das Vorgehen der Polizei.

Für Macron, aber auch für Bürgermeister Landuyt sind die Migranten ein Problem, für Maréchal eine Mission. Er versorgt die Menschen seit drei Jahren mit dem Notwendigsten. Kleidung, Lebensmittel, Hygieneartikel stapeln sich im Keller seines Hauses direkt neben der backsteinroten Kirche. Duschen können die Flüchtlinge in einem Container im Garten. Warum er das tut? «Ich bin Priester, ich bin Christ. Die Migranten sind Menschen in Not.» Bedürftigen aus Zeebrugge stehe er auch zur Seite, darauf legt Maréchal wert.

Er sagt, es sei der Hafen, der die Migranten anziehe. Kritiker machen hingegen seine Arbeit verantwortlich. Auch Schmuggler versuchten, an Maréchals Kirche Kontakt zu Migranten aufzunehmen, sagt Landuyt. Er helfe nicht Menschen in Not, sondern der weltweiten Kriminalität.

Per Post, auf Facebook, telefonisch – und in seinem eigenen Garten: Immer wieder wird Maréchal für seine Arbeit angefeindet. «Gratis öffentliches WC», steht auf einem der Schilder, die er zur Seite räumt. «Pissen links, kacken rechts», auf einem anderen. Unbekannte haben sie am Vortag vor seinem Haus aufgestellt. Lokale Medien berichten auch über Todesdrohungen. Warum wird der Streit so heftig geführt? Und warum wollen so viele Migranten nach England?

Wer kein Asyl beantragt, soll das Land verlassen

Hauptgrund sei für viele ein soziales Netz aus Freunden und Familie in England, sagt Mehdi Cessou von der Brüsseler Bürgerinitiative Plateforme Citoyenne. Außerdem halte sich hartnäckig das Gerücht, man finde dort einfach einen Job. Cessou zufolge hilft nur Aufklärung. Mittlerweile würden drei von zehn Migranten Asyl in Belgien beantragen, anstatt nach Calais oder Zeebrugge zu reisen und auf die Überfahrt in einem Lastwagen oder Schiffscontainer zu hoffen.

Bürgermeister Landuyt rechnet 2018 mit rund 12.000 Festnahmen von Migranten. In den beiden vorangegangenen Jahren seien es jeweils rund 8000 gewesen, sagt er. Nach der Festnahme werden sie 48 Stunden festgehalten. Falls sie kein Asyl beantragen wollen, sollen sie das Land verlassen. Die wenigsten halten sich daran – und werden wieder festgesetzt.

Brügge, ganz Belgien erhöht derzeit den Druck. Premier Charles Michel beauftragte kürzlich den politisch weit rechts stehenden Staatssekretär für Asyl und Immigration, Theo Francken, «effiziente» Vorschläge im Umgang mit dem Thema vorzulegen. In Zeebrugge patrouilliert die Polizei Tag und Nacht. Bürgermeister Landuyt setzt auf einen Abschreckungseffekt.

Bei Fernand Maréchal bleibt es heute ruhig. Auch auf den Straßen tut sich nichts. Wie jeden Montag sind ein Arzt und eine Krankenschwester zur offenen Sprechstunde gekommen – vergebens. Seit kurzem patrouilliere die Polizei auch an der Kirche, sagt Maréchal. Deshalb hielten sie sich versteckt. Ein Camp wie in Calais gibt es nicht.

Wenig versteckt in Brüssel

Alles andere als versteckt leben viele Migranten in der Hauptstadt Brüssel, die für viele auf dem Weg nach England Durchgangsstation ist. Im Parc Maximilien am Nordbahnhof hausen Flüchtlinge seit Jahren im Dreck. Auch hier gibt es kein Camp mehr, manch einer legt sich jedoch zum Schlafen auf feuchte Pappen. Wer hier nach England möchte? Ein junger Mann aus dem Tschad lacht. «Alle wollen nach England», sagt er. Jeder habe andere Hoffnungen.

Ein zweiter Mann, 28 Jahre alt aus dem Sudan, schildert seinen Weg: 2015 habe er sich auf nach Europa gemacht, über Libyen nach Italien. Später habe er acht Monate in Deutschland gelebt, dann 18 Monate in Frankreich, seit zwei Monaten ist er in Brüssel. Glück habe er bisher nicht gefunden. England sei die letzte Chance.

Dabei ist die Insel längst nicht mehr das Paradies für Migranten, das es einst war. Arbeit, Zugang zum Gesundheitsdienst zu bekommen und eine Wohnung zu finden ist schwierig geworden. Verantwortlich dafür ist vor allem Premierministerin Theresa May. In ihrer Zeit als Innenministerin von 2010 bis 2016 führte sie Auflagen ein, die als «hostile environment», als «feindliche Umgebung» für Migranten bekannt wurden. Vermieter, Hausarztpraxen und Arbeitgeber sind seit einigen Jahren gezwungen zu prüfen, ob sich Mieter, Patienten und Angestellte rechtmäßig in Großbritannien aufhalten.

«England oder Tod»

Auch beim Brexit-Votum vor zwei Jahren spielte das Thema Einwanderung eine große Rolle. Viele Briten wollen die Anzahl der Einwanderer stark begrenzen. Der leichtere Zugang zur Sprache und die niedrige Arbeitslosigkeit machen das Königreich trotzdem weiter attraktiv.

Ist aufhören für Maréchal eine Option? Nicht wirklich. «Ich fühle mich verantwortlich für die Menschen», sagt er. Und es gibt sie ja, die Positivbeispiele: «England oder Tod», mit diesem Zitat ist vor wenigen Wochen eine Geschichte im Wochenend-Magazin einer flämischen Tageszeitung überschrieben. Und darunter steht: «Wie vier iranische Brüder über Zeebrugge nach London kamen.» In dem Text erzählen die vier von einem neuen Leben. Und erinnern sich dankbar an Maréchal.

J.C. KEMP
10. Oktober 2018 - 21.48

Nach Brexit einfach alle durchlassen wäre wohl die beste Lösung. May und Boris werden's richten.