„Machen Sie sich keine großen Erwartungen.“ Diese Worte kommen aus dem Mund von PolizistInnen, ÄrztInnen, AnwältInnen und Mitgliedern von Frauenhilfsorganisationen. Sie sind keineswegs von bösartiger Natur, doch sie verweisen auf die triste Realität. Als Opfer von sexualisierter Gewalt lernt man schnell, jegliche Hoffnung auf Gerechtigkeit zu begraben. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.
Nach außen hin wird propagiert, es sei von großer Wichtigkeit als Opfer, schnellstmöglich zu handeln. Vom Tatort zur Polizei, auf keinen Fall duschen, keine Spuren verwischen, sich untersuchen lassen, jedes auch noch so intime Detail preisgeben, um den Täter bzw. die Täterin überführen zu können. Wer vorbildlich handelt, muss doch schließlich auch belohnt werden, nicht wahr?
Nein. Gerechtigkeit für Vergewaltigungsopfer ist zurzeit nicht mehr als ein Märchen, ein naiver Traum von einer beschützenden Justiz, die schlicht und ergreifend für die große Mehrheit nicht existiert. Als „mutmaßliches Opfer“ befindet man sich in der absurden Situation, immer und immer wieder die zuständigen Autoritäten von der eigenen Unschuld und Ehrlichkeit überzeugen zu müssen, denn es besteht noch immer die Trope der lügenden Frau, die aus reiner Bösartigkeit dem meist männlichen Täter mit einer falschen Beschuldigung das Leben grundlos zur Hölle machen will oder den angeblich einvernehmlichen Geschlechtsverkehr nun bereut und sich im Folgeschluss dem Mittel der Anzeige bedient.
Ich möchte im Folgenden an meinen eigenen Erfahrungen verdeutlichen, was es eigentlich bedeutet, eine solche Anzeige zu erstatten. Nehmen wir an, Sie befinden sich nicht mehr am Tatort, sprechen eine Passantin an, welche für Sie die Polizei ruft. Kurz darauf erscheinen ein Streifenwagen mit zwei Polizeibeamten sowie ein Rettungswagen. Sie werden von den Rettungssanitätern in den Rettungswagen begleitet und erzählen ihnen, was passiert ist. Sie seien nackt in den Armen eines fremden Mannes in einer fremden Wohnung aufgewacht. Sie könnten sich nicht daran erinnern, wie Sie dorthin gelangt waren. Sie hätten gespürt, dass Sie Sex gehabt hätten, könnten sich aber nur dunkel an vereinzelte Bruchstücke des Ganzen erinnern. Als der Fremde auch wach wurde, hätte er Sie erneut brutal vergewaltigt, dieses Mal aber waren Sie bei vollem Bewusstsein. Sie werden gefragt, ob Sie Alkohol oder sonstige Drogen konsumiert hätten. Es besteht der Verdacht auf K.-o.-Tropfen, doch einer der Rettungssanitäter macht Ihnen sofort klar, dass die Wahrscheinlichkeit, diese in einem Bluttest nachzuweisen, gering ist.
Die Polizei betritt schließlich den Krankenwagen und Sie erzählen Ihre Geschichte in voller Länge jetzt zum dritten Mal. Es ist noch immer der Morgen der Vergewaltigung. Man fährt Sie ins nächstgelegene Krankenhaus, die zwei Polizeibeamten begleiten Sie. In jedem Raum, in den man Sie mit dem Rollstuhl schiebt, fällt der Begriff „Vergewaltigung“. Ihnen wird mehrmals Blut abgenommen.
Schließlich kommen Sie zu einer Frauenärztin. Sie erzählen Ihre Geschichte zum vierten Mal. Die im Raum anwesenden Krankenschwestern schauen Sie bemitleidend an. Kam es zur Penetration? Vaginal? Oral? Anal? Gibt es Druckspuren? Kratzspuren? Bissspuren? Sie ziehen sich aus, Ihre Kleidung wird später von der Spurensicherung mitgenommen. Sowie Ihr benutzter Tampon, denn Sie haben am Morgen ihre Regelblutung bekommen. Es werden Fotos von Ihrem ganzen Körper gemacht, Sie stehen nackt in einem Raum voll mit fremden Menschen. Es werden Abstriche vom ganzen Körper, inklusive Intimbereich, gemacht. Jeder blaue Fleck und jede Schramme wird dokumentiert. Sie bekommen Kleidung vom Krankenhaus.
Täter werden geschützt
Als Sie denken, es sei nun endlich vorbei, tritt die Spurensicherung ein und möchte erneut Fotos machen. Aus Mitleid einigen Sie sich allerdings mit der Ärztin darauf, dass die Klinik Ihnen die bereits erstellten Fotos zukommen lässt. Die beiden Polizeibeamten warten vor dem Untersuchungszimmer auf Sie, begleiten Sie zum Streifenwagen und fahren mit Ihnen zu einer Wache. Dort werden Sie für die nächsten vier Stunden in einem Büro sitzen und einer Polizistin Wort für Wort Ihre Aussage diktieren. Sie werden weinen, zittern und sich schämen.
Die Spurensicherung trifft erneut ein und macht trotz der Abmachung mit der Ärztin Fotos von ihrem Körper. Sie stehen nackt in einem leeren Büro. Sowohl die Fotos aus dem Krankenhaus als auch die, die in der Polizeiwache aufgenommen wurden, werden in den Ermittlungen verschlampt. Die Staatsanwaltschaft wird diesen Fehler nicht als gravierend einschätzen. Nachdem Sie Ihre Geschichte zum fünften Mal erzählt haben, fühlen Sie sich erstmals erleichtert. Sie sind der Meinung, das Richtige getan zu haben.
Doch dieses Gefühl des Aufatmens verfliegt schnell. Am nächsten Morgen gehen Sie in ein anderes Krankenhaus. Zur HIV-Prävention. Sie werden über die nächsten 30 Tage jeden Tag eine Pille schlucken müssen. Zudem erklärt Ihnen die behandelnde Ärztin, dass in Ihrem Blut ein erhöhter Liquid-Ecstasy-Spiegel nachzuweisen war. Das forensische Labor wird die identische Blutprobe auch untersuchen und den nachgewiesenen Wert, zum völligen Unverständnis der Ärzte in der Klinik, als interpretierbar beziehungsweise unauffällig einschätzen.
Sie können die nächsten Nächte nicht schlafen, die nächsten Wochen nichts essen. Und trotzdem erzählen Sie immer wieder, was Ihnen passiert ist. Sie erzählen es Ihrer Familie, Ihren Freunden, weiteren Ärzten, Psychologen, Psychiatern und Betreuern. Ihnen wird immer wieder gesagt, Sie hätten vorbildlich gehandelt. Einige Wochen später wird Ihre Anzeige eingestellt, da die Staatsanwaltschaft die Beweislage als unzureichend einstuft, damit es bei einem Prozess zu einer Verurteilung kommen könnte. Der Täter gibt zu, mit Ihnen mehrmals Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, behauptet allerdings, dieser sei einvernehmlich gewesen und vor allem wäre die Initiative von Ihnen ausgegangen. In demselben Schreiben wird er zugeben, durch die Anzeige erstmals Ihren Namen erfahren zu haben. Sie stellen daraufhin einen detaillierten Fortführungsantrag, in dem Sie unter anderem auf die fehlenden Fotos und Ihre Blutwerte aufmerksam machen.
Die Staatsanwaltschaft wird dieses Schreiben schlichtweg ignorieren. Die Justiz schützt systematisch die TäterInnen von sexualisierter Gewalt, während die Opfer, welche lediglich Gerechtigkeit für das verlangen, was ihnen angetan wurde, sich zusätzlich zur initialen Traumatisierung durch die eigentliche Tat nun von einer öffentlichen Institution retraumatisieren lassen müssen. In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es, die Würde des Menschen sei unantastbar. Doch jedem Opfer von sexualisierter Gewalt ist bewusst, dass sie mehr als angreifbar ist.
Die Autorin ist Studentin an der Universität Luxemburg und macht dort den „Bachelor en cultures européennes“ im Fachbereich Germanistik.
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