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Philharmonie„A very Chilly Christmas“ mit Chilly Gonzales

Philharmonie / „A very Chilly Christmas“ mit Chilly Gonzales
Er steigt im Bademantel von der Bühne herab, klettert über den Köpfen der Zuschauer von Sitzreihe zu Sitzreihe und nimmt ein Bad in der Menge Photo: Alfonso Salgueiro

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Der Mann ist ein Phänomen: Er ist ein begnadeter Pianist, ein ebenso begnadeter Showman und seine Musik ist kaum einzuordnen. Am Samstag präsentierte er sich zwei Stunden lang in ganz großer Form: der 50-jährige Kanadier Jason Charles Beck alias Chilly Gonzales mit seiner dreiköpfigen Streicher-Begleitung.

Kurz nach 20 Uhr stürmt er strahlend herein, wie immer underdressed in Schlafmantel und Pantoffeln, lässt sich erstmal gebührend abfeiern, nimmt dann hinter dem hauseigenen Flügel der Philharmonie Platz. Das Licht wird überall herunter gedimmt, nur die Tastatur des an diesem Abend wichtigsten Arbeitsgerätes bleibt dezent beleuchtet. Kaum hat der Mann – in einer leicht buckligen Haltung – Besitz von diesem wundervollen Instrument ergriffen, tritt Stille im Auditorium ein.

Man taucht völlig in die Musik ein. Doch was ist es, was Chilly Gonzales da spielt? Sind es klassische Piano-Sonaten, ist es Film-Musik von Nichael Nyman für einen Peter-Greenaway-Film? Keith Jarrett blitzt durch – eine Passage wie aus dessen legendärem Köln-Concert –, dann wieder ein paar Takte Astor Piazzolla. Im gut gefüllten großen Konzertsaal fragt sich wohl so mancher: „Welcher Christmas-Song wird gerade so verfremdet, dass ich ihn nicht erkenne?“

Die Krux mit den Weihnachtsliedern

In Zeiten, in denen an jeder Ecke, in jedem Supermarkt, auf jedem Christmarkt das Lied vom Mann, der an Heiligabend nach Hause fährt, von dem, der bedauert, an Weihnachten sein Herz verloren zu haben, und daher beschließt, es im darauffolgenden Jahr einem „speziellen“ Menschen zu überlassen, oder der Frau, die sich als Weihnachtsgeschenk nur „Dich“ wünscht, rauf- und runtergedudelt wird, ist man erst einmal nicht traurig darüber, dass Chilly Gonzales vor allem eigene Kompositionen spielt.

Der Kanadier, der seit ein paar Jahren in Köln lebt, begrüßt das Publikum, macht Witze und plaudert gekonnt polyglott: „A chaque moment I can switch into a different Sprache“ und stellt seine drei Begleitmusiker vor: Taylor Savvy am Kontrabass, Stella Le Page am Cello und Yannick Hiwat an der Violine. Sie bringen Farbe in die Musik und ins Bühnenbild. Der Erstgenannte durch seine knallig ausgeleuchtete, pinkfarbene Baskenmütze, die Cellistin im orangefarbenen Outfit und der Geiger in seinem ultramarinblauen Sakko. Die drei sind nicht nur für die Streicher in diesem speziellen Kammer-Quartett zuständig, sie steuern auch in einigen Songs Percussion und Keyboards bei.

Happy, sad & angry Christmas

Gegen Mitte des Sets heißt es dann doch: „Are you ready to slip slowly in the mood for Christmas?“ Es folgen einige sehr originelle Medleys von Weihnachtsliedern. „Stille Nacht“ und „Jingle Bells“ werden beispielsweise in Moll gespielt – ohne „forced smile“, wie der Mann am Klavier meint. Dann kriegt Santa Claus noch sein Fett weg in einem wütenden Rap, und auch die Musikindustrie, die nur noch Einheitsbrei begünstige. Er spielt „Take Five“ von Dave Brubeck – zuerst, wie es sich gehört, im 5/4-Takt – und ist sich sicher, dass keine Plattenfirma heute den Mut habe, so etwas genial Unkonventionelles zu veröffentlichen. Dann präsentieren die Musiker das Stück im 4/4- und sogar im 3/4-Takt als Walzer.

Mit den „Hits“ „Take me to Broadway“, in dem der Kirchberg augenzwinkernd mit dem Broadway verglichen wird, und „Knight moves“ beschließen die Vier das offizielle Set, kommen unter tosendem Applaus natürlich zurück und der Bandleader erklärt anschaulich, wie sehr er es während des Lockdowns vermisst habe, Konzerte vor Publikum zu spielen. Live-Stream-Konzerte seien hingegen „like having sex with three condoms on“. Dann spielen sie „C’est wonderfoule de prendre un bain de foule“ und Chilly macht seine Ankündigung wahr. Er steigt von der Bühne herab, klettert über den Köpfen der Zuschauer von Sitzreihe zu Sitzreihe und nimmt zum Abschluss eines Konzerts, das sämtlichen Beteiligten einen Riesenspaß bereitet hat, tatsächlich ein Bad in der Menge.