Ist unser Land wirklich so klein auch in seiner Kariertheit, dass eine gediegene Streitkultur nicht möglich ist? Kann man nicht mehr mit Argumenten und gelassenem (meinetwegen auch deftigem) Humor streiten, sondern nur noch mit Einschüchterung, Beschimpfung, Ressentiments und Anathema? Die ganze Problematik, die ich unter dem Fanal-begriff „Trennung von Kirche und Staat“ zusammenfassen möchte, die über diesen aber weit hinausgeht, weist auf einen Riss in unserer Gesellschaft hin, der eine viel tiefere Trennung aufdeckt als die oben genannte.
Der italienische Schriftsteller Erri de Luca spricht von der laizistischen Trinität: liberté-égalité-fraternité. Für Freiheit und Gleichheit (oder Gerechtigkeit) kann man kämpfen, um sie zu erhalten. Die Brüderlichkeit nicht. Sie ist ein Geschenk, eine spirituelle Bedingung, die uns überhaupt fähig macht, für Freiheit und Gleichheit zu kämpfen. Mir scheint, dass diese Brüderlichkeit oder würde ich auch noch sagen menschliche Solidarität, in dieser ganzen Situation zu beiden Seiten des Weges allzu oft auf der Strecke bleibt. Die Franzosen sagen: „Les extrêmes s’annulent.“ Nicht nur die Ausdrücke, sondern auch die Nicht- und Ver-achtung, die manchmal auf beiden Seiten durchschwitzt, sind Extreme und wirken auf die Dauer nichts sagend und ermüdend. Ich bin Historiker. Mein Spezialgebiet der Forschung ist die Toleranzgeschichte.
Außerdem bin ich ein Gemeindepfarrer an der Basis. Wir haben hier in unserer Gemeinde französische Sprach- und Alphabetisationskurse für Flüchtlinge organisiert. Einmal hatte ich mit ihnen die Geografie zum sprachlichen Thema gewählt. Wir schauten und besprachen auf der Karte die hiesige Geografie. Wir verfolgten den Weg, den die meisten über Türkei, Süd- und Osteuropa, bis in unser Land zurückgelegt hatten.
Am Ende fragten die teilnehmenden Flüchtlinge, warum denn in Europa die Toleranz so wichtig sei. Wir nahmen wieder die Karte zur Hand und ich zeigte ihnen darauf die paar Zentimeter (für 60 km) die Foetz, (wo das Flüchtlingsheim ist) von Verdun trennen. Und ich erklärte ihnen, dass dort, vor genau hundert Jahren, eine der schrecklichsten Schlachten der Geschichte ausgetragen wurde. Mein Vater, der damals ein Kind war, erzählte uns, dass sie abends im Bett das dumpfe Grollen der Kämpfe hören konnten. Die Flüchtlinge, die diese Situation von daheim kennen, verstanden sofort: L’Europe sait aujourd’hui, s’il n’y a pas de tolérance, il y aura de nouveau des Verdun!
Verdun hatte damals aber auch eine inner-französische Wirkung. Das Land war bis dahin aus der Spaltungskrise des 19. Jahrhunderts und der Krise der Trennung von Kirche und Staat um die Jahrhundertwende nicht herausgekommen und war im wahrsten Sinne des Wortes entzweit. In den Gräben des Ersten Weltkrieges fanden sich dann Seite an Seite, Klerikale und Antiklerikale, Christen und Marxisten, Gläubige und Atheisten, Rechte und Linke und entdeckten in der Misere wieder die verloren gegangene Brüderlichkeit. Nach dem Krieg standen sie sich nicht mehr mit Argusaugen gegenüber wie vorher. Ich frage mich, muss es denn immer zu solch schrecklichen Erfahrungen kommen, um der Brüderlichkeit zu ihrem Recht zu verhelfen?
Ich habe meinen Vater 1987 und meine Mutter 1999 den ganzen Weg auf ihrem Sterbelager begleitet. Beide Male war es schwer und ermüdend, doch irgendwie gnadenvoll. Auch jetzt, in der Situation in der unser Land ist (von der internationalen Lage gar nicht zu reden), fühle ich mich von einer ähnlichen Müdigkeit befallen und weine über unser Land, doch ohne etwas von der Gnade wie beim Sterben meiner Eltern zu spüren. Deshalb bitte ich um Gnade (man sagt, dass man sogar vor Gericht Gnade walten lassen kann)! Ich bitte um die Gnade, die Brüderlichkeit nicht sterben zu lassen. Sonst ist es auch bald um die Freiheit und Gleichheit( oder Gerechtigkeit) geschehen.
Frère François Terzer
(curé de Schifflange, Mondercange, Pontpierre)
1) Erri de Luca, Le plus et le moins, Paris, Gallimard 2014
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