CoronaMann hinter Schwedens Sonderweg kritisiert  andere Europäer: „Verbote haben auch viele Nachteile“

Corona / Mann hinter Schwedens Sonderweg kritisiert  andere Europäer: „Verbote haben auch viele Nachteile“
Der Sergels-torg-Platz in Stockholm von oben: Während der Rest Europas im Lockdown ist, machen die Schweden erst einmal mehr oder weniger weiter wie bisher Foto: AFP/Jonathan Nackstrand

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Schweden geht die Corona-Krise lockerer an als die anderen Europäer. Und erntet dafür viel Kritik. Jetzt hat sich der Chef des schwedischen Gesundheitsamts erstmals in einem TV-Interview erklärt. Johan Carlson ist überzeugt: Der schwedische Weg ist der richtige. Schließlich gelte es auch, die Folgen eines wochenlangen Shutdowns zu bedenken. Für die Wirtschaft und für die Menschen. Auch deshalb kritisiert er die europäischen Verbote.

Schweden geht einen Sonderweg in der Corona-Krise. Statt mit Verboten arbeitet das Land vor allem mit Empfehlungen. Fast alles war auch am Wochenende geöffnet. In Einkaufszentren, Bars und Cafés tummelten sich die Gäste. Auch wenn es weniger waren, kann man nicht von leerstehenden Anlagen sprechen. Kindergärten und Grundschulen bis einschließlich neunter Klasse bleiben offen. Gymnasien und Hochschulen wurde lediglich empfohlen, den Unterricht ins Internet zu verlegen. Die sind der Empfehlung aber fast alle gefolgt. Auch Reisen sind weiter erlaubt, die Osterferien stehen ja an. Die Grenzen bleiben offen.

Das Land hält bisweilen nur wenige Empfehlungen fest. So sollte möglichst zu Hause bleiben, wer sich auch nur leicht erkältet fühlt oder einer Risikogruppe angehört. Zudem wurden besonders Gefährdete isoliert, wie etwa Menschen in Altersheimen. Aber auch ein erstes Verbot wurde ausgesprochen. Seit Sonntag sind öffentliche Menschenansammlungen von mehr als 50 Menschen nicht mehr erlaubt. Davor waren es 500. Wie genau das umgesetzt wird, bleibt offen.

Wer nicht schwer krank ist, darf sich in Schweden nicht testen lassen. Man soll dann lieber daheim bleiben und sich selbst auskurieren und nicht noch Leute auf dem Weg zum Arzt anstecken, so die Argumentation. Eine große Mehrheit der Bevölkerung steht hinter dem lockeren Umgang mit Corona. Die rotgrüne Regierung und die bürgerliche Opposition haben einen Burgfrieden geschlossen und unterstützen sich gegenseitig.

Eine ganz besondere Eigenheit ist die, dass nicht die sich derzeit stark zurückhaltenden Spitzenpolitiker, sondern die Experten der Volksgesundheitsbehörde fast allein entscheiden über die Eindämmungspolitik in dem rund zehn Millionen Einwohner zählenden Staat mit relativ engem sozialen Schutznetz. Doch die Unruhe wächst darüber, dass Schweden einen ganz anderen Weg geht als alle anderen europäischen Länder. Zuletzt hat auch Großbritannien seinen relativ lockeren Kurs abgeändert.

Vertrauen statt Verboten

Erstmals antwortete nun der Chef der schwedischen Volksgesundheitsbehörde, Johan Carlson, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen SVT auf die Frage, warum Schweden so anders tickt. Ob das nicht ein gefährliches Experiment sei. Wieso es in Schweden nur Empfehlungen und keine Verbote gebe. „Ich glaube insgesamt nicht an Verbote wie Reiseverbote oder Ausgangssperren“, so der Gesundheitsbehördenchef. Wenn man über Maßnahmen spreche, sei es wichtig, darauf zu vertrauen, dass Menschen ihrer Verantwortung nachkommen, findet Carlson. Dass man bei Symptomen zu Hause bleibe und nicht wirklich wichtige Reisen unterlasse, sei Menschen zuzutrauen. Aber Verbote? Lieber nicht. „Menschen haben ja unterschiedliche Gründe“, so Carlson, und manche seien wichtig.

Ein gefährliches Experiment? Es ist auch ein äußerst, äußerst kniffliges Experiment, die gesamte Bevölkerung eines Landes vier bis fünf Monate einzusperren

Johan Carlson, Chef des schwedischen Gesundheitsamts

Einschränkungen wie in Frankreich oder auch Luxemburg hält Carlson für zu scharf für Schweden. Maximal zwei Personen, das sei ja keine Gruppe mehr, sagt er vorsichtig. Und fügt hinzu: „Wenn Maßnahmen zur Eindämmung erfolgreich sein sollen und diese vielleicht mehrere Monate andauern, braucht es eine Akzeptanz und ein Verständnis in der Bevölkerung.“ Dass Schweden etwas anders funktioniert, erläutert Carlson dann auch noch. Im Grunde müsse die Bevölkerung, gerade wenn es um so etwa wie Corona geht, eine eigene Einsicht haben. „So haben wir immer im Ansteckungsschutz gearbeitet, etwa mit Impfprogrammen“, sagt Carlson. In Schweden gibt es keine Impfpflicht. „Man klärt auf, unterrichtet, erhöht das Verständnis“, erklärt Carlson die schwedische Herangehensweise.

Bars und Restaurants sind weiter geöffnet: Schweden setzt im Kampf gegen das Coronavirus auf die Vernunft seiner Einwohner
Bars und Restaurants sind weiter geöffnet: Schweden setzt im Kampf gegen das Coronavirus auf die Vernunft seiner Einwohner Foto: AFP/Ali Lorestini

Auf die Frage der Moderatorin, wieso Schweden nicht den Weg der anderen Europäer gehe, relativiert Carlson. Der Unterschied sei gar nicht so groß. „Auch wenn die anderen sagen, dass sie alles dichtmachen, gehen sehr viele weiter arbeiten, und man darf mit dem Hund raus und in den Supermarkt“, sagt Carlson, der sich skeptisch gegenüber den Ausgehverboten zeigt. „Man muss darüber nachdenken, was das Allerwichtigste ist, um eine Corona-Ausbreitung zu verhindern – dass sich Menschen mit Symptomen nicht im Freien bewegen und man Risikogruppen schützt“, sagt Carlson.

Der Mann, der in der Stadt Uppsala wohnt, erzählt von den vielen älteren Menschen dort, die oft zu zweit spazieren gehen. „Man soll auch hinausgehen und sich bewegen, es ist schädlich für die Gesundheit, nur daheim zu sitzen“, sagt Carlson. Die Maßnahmen in so vielen anderen europäischen Staaten kann sich Carlson nur in einem Mangel an Verständnis und an Vertrauen in die eigene Bevölkerung erklären. „In Schweden haben wir das“, sagt Carlson, „die Leute machen das zumeist richtig hier“.

Nichts ist sicher, auch in Schweden nicht

Was wichtig sei. Schließlich wisse keiner, wie lange das noch dauere. Vielleicht ein halbes Jahr, wirft Carlson in die Runde. Aber auch bis Ende Mai sei „eine lange Zeit, wenn man Menschen daheim einschließt“, sagt Schwedens Gesundheitsbehördenchef. Die Behörde, betonte auch Carlsons Staatsepidemiologe Anders Tegnell, gehe strikt von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Epidemien aus. Demnach habe zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Eindämmung durch die wirtschaftlich schädliche Schließung des ganzen Landes ohnehin keine Aussicht auf Erfolg mehr, so der Staatsepidemiologe.

Studien, die anderes sagen, wie eine aus Großbritannien, das bis vor Kurzem einen ähnlichen Kurs wie Schweden fuhr, sich dann jedoch wegen unter anderem dieser Studie an die vorherrschende Strategie mit vielen Verboten angepasst hat, hält Tegnell für wissenschaftlich kaum aussagefähig. Auch andere alarmierende Studien haben seiner Bewertung nicht standgehalten. Die seien in kürzester Zeit entstanden und hätten viele wissenschaftliche Mängel, sagte er. Das gelte auch für viele Studien aus China.

Carlson selber hält die Strategien in Verbotsländern mit Strafen bei Zuwiderhandlung für mittelfristig nicht haltbare Lösungen. Viele seiner wissenschaftlichen Kollegen in Europa sähen das genauso. Die vergangenen Wochen sei er in engem Kontakt zu vielen seiner europäischen Kollegen gestanden. „Wir kennen uns alle ziemlich gut.“ Und viele von ihnen seien bekümmert über die Verbotsstrategien in ihren Ländern. Nicht alle Verbote würden befolgt, zudem fehle vielerorts das Verständnis. Und Regeln, die nicht verstanden würden, unterminierten das Vertrauen in die Behörden.

Es ist nicht so, als würden die Schweden gar nichts tun: Aufbau eines Feldlazaretts
Es ist nicht so, als würden die Schweden gar nichts tun: Aufbau eines Feldlazaretts Foto: dpa/Jonas Ekstromer

„Wenn jetzt alle sagen, unser schwedischer Sonderweg sei ein gefährliches Experiment, würde ich antworten, dass es ein äußerst, äußerst kniffliges Experiment ist, die gesamte Bevölkerung eines Landes vier bis fünf Monate einzusperren“, kritisiert Carlson. Der schwedische Weg sei nicht gefährlich, unterstreicht er. „Wir sind überzeugt davon, das unser Weg der beste ist, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, ohne sehr große Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.“

Ziehe man im Nachhinein Bilanz, könne nicht nur die Anzahl der Corona-Infizierten den Ausschlag geben. „Wir müssen auch auf die Nachteile von Verboten schauen – was mit Menschen passiert ist, die sich monatelang eingeschlossen haben, wie sich das auf die Volksgesundheit ausgewirkt hat, welche Auswirkungen die Schulschließungen hatten.“ Auch wenn das nicht zur Arbeit seiner Behörde zähle, müsse erwähnt werden, dass der Niedergang der Wirtschaft und Arbeitslosigkeit zu teils ernsten gesundheitlichen Problemen führten, merkt er an. Doch Carlson sagt am Ende ebenfalls noch diesen Satz: „Was in Schweden in den kommenden Tagen und Wochen passiert, das weiß auch ich nicht.“

J.C.Kemp
6. April 2020 - 19.15

Jede Massnahme wird erst frühstens nach der Inkubationszeit zeigen, was sie taugt. Jeden Tag neue Einschränkungen zu veröffentlichen, ist unwissenschaftlich und eine Panikhandlung. Die Regel bei einem Experiment besagt, dass immer nur ein Parameter verändert werden soll, wenn man die Wirkung dieses Parameters feststellen will. Werden mehrere Parameter gleichzeitig oder in kurzen Abständen geändert, ist nicht mehr festzustellen, welche Änderung Wirkung hatte. Genaudas wird im Augenblick getan.

Mensch
31. März 2020 - 14.13

Wenn alles vorbei ist kann Bilanz gezogen werden. Wenn in Ländern mit strengen Massnahmen die Zahl der Toten, gemessen an der Gesamtbevölkerung, gleich war wie die in Schweden dann haben die Schweden gewonnen. Aber erst mal abwarten. Vielleicht ist es gar nützlich beide Systeme vergleichen zu können um für das nächste Virus besser aufgestellt zu sein.

daniela krauss
31. März 2020 - 0.22

Der Mann wird sich gleich entschuldigen wenn übernächste Woche 10.000 Tote zu beklagen sind. Wie all die andern.