RadsportBob Jungels: „Ich hatte mein ganzes Selbstvertrauen verloren“

Radsport / Bob Jungels: „Ich hatte mein ganzes Selbstvertrauen verloren“
Bob Jungels wird bei der diesjährigen Tour de France Etappensiege anvisieren Foto: Sigfried Eggers

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Bob Jungels geht 2020 in seine neunte Saison als Profi. Nachdem er 2019 zuerst Kuurne-Brüssel-Kuurne gewann, erlebte er mit dem Giro d’Italia die schwierigste Rundfahrt seiner Karriere. Das Rennen in Italien zehrte so stark an ihm, dass er während des Rests der Saison nicht mehr zu alter Stärke zurückfand. Aus den Fehlern haben Jungels und die Mannschaft aber gelernt. Im neuen Jahr wird er sich vor allem auf die Klassiker und auf Etappensiege bei der Tour de France konzentrieren.

Tageblatt: Es gibt Sportler, wie beispielsweise Skispringer, die an den Tagen um den Jahreswechsel nicht zu viel feiern dürfen. Wie ist das bei Ihnen? 
Bob Jungels: Weihnachten habe ich ruhig im Kreise meiner Familie verbracht. Über Neujahr war ich traditionellerweise in Österreich und habe etwas Langlauf gemacht. Es sind ein paar Tage, von denen ich wirklich profitiere. Wenn es abends Raclette gibt, dann muss man das ausnutzen. Das gehört zum Gleichgewicht eines Sportlers dazu. 

Die Vorbereitung auf die neue Saison haben Sie aber schon vor Weihnachten begonnen …
Im November habe ich den Sitz der Firma Specialized (Radhersteller von Deceuninck-Quick Step, Anm. d. Red.) in Morgan Hill, Kalifornien, besichtigt. Mit Yves Lampaert und Remco Evenepoel waren wir dort außerdem im Windkanal und haben unsere Position auf dem Rad angepasst, um uns im Zeitfahren zu verbessern. Vielleicht habe ich das Zeitfahren etwas vernachlässigt, weil ich in den letzten drei Jahren viel am Berg gearbeitet habe. Ich möchte gute Resultate im Zeitfahren erzielen, da gehört aber auch physisches Training dazu. Ich habe deswegen auch mehr Zeit im Fitnessraum verbracht. 

Es gibt Fahrer wie Tom Dumoulin oder Primoz Roglic, die Fähigkeiten am Berg und auch im Kampf gegen die Uhr haben. Macht das den Fahrer für ein Gesamtklassement aus?
Man braucht eine Mannschaft, die sich auf die großen Rundfahrten konzentriert. Das sind zum Beispiel Teams wie Jumbo Visma oder Ineos, die hauptsächlich Berg- und Zeitfahrtraining bestreiten. Wir haben andere Ziele. Deswegen kann ich nicht alles auf eine Tour de France setzen.

2019 hatten Sie das Ziel, eine gute Platzierung im Giro d’Italia zu erreichen. Mit einem 33. Platz ist Ihnen das nicht gelungen. Danach sagten Sie, dass Sie in diesem Jahr viel gelernt hätten. Was genau?
Ich habe viel über meinen Charakter herausgefunden. Nach den ersten zehn Tagen in Italien merkte ich, dass ich mich nicht gut fühlte. Aus Respekt gegenüber der Mannschaft wollte ich aber dort bleiben. Die Nettigkeit ist manchmal ein Störfaktor für mich. Nach dem Giro hatte ich mein Selbstvertrauen verloren. Für mich war es nicht einfach und ich habe viel mit Psychologen gearbeitet. Nach der Italien-Rundfahrt habe ich viel mit dem Staff geredet. Sie haben zugegeben, dass Fehler gemacht wurden und dass ich den Giro hätte beenden sollen. 

Manchmal bin ich nicht egoistisch genug

Bob Jungels

Heißt dass, das Sie mehr auf sich selbst achten sollten?
Manchmal bin ich nicht egoistisch genug. Es gibt Rennen, bei denen ich ein gutes Resultat einfahren kann, aber dann bevorzuge ich es, einem Teamkollegen zu helfen. Das ist aber nicht meine Rolle. Ich bin nun 27 Jahre alt und an einem Punkt angekommen, an dem ich sagen muss, dass ich selbst ein gutes Resultat einfahren möchte. 

Ist es das erste Mal, dass Sie während eines Rennens derart leiden mussten? Sie wirkten in Italien ziemlich kraftlos.
Es ist vor allem das erste Mal, dass ich mein ganzes Selbstvertrauen verlor. Normalerweise fühle ich mich auf dem Rad wohl und habe eine andere Art und Weise, zu fahren, als ich es in Italien gezeigt habe. Aber im Giro hatte ich eine Blockade. Während der Saison konnte ich meine Stärken nicht mehr zurückfinden. Ich habe das Rad zwei Wochen stehen lassen. Mental war alles sehr schwer zu verdauen. Erst am Ende der Saison habe ich mein Vertrauen wieder ein wenig zurückgefunden. 

War es denn ein Problem Ihres Rennkalenders, dass Sie in Italien körperlich nicht fit waren?
Ich hatte vor der Rundfahrt einige Rennen zu viel bestritten. Paris-Nice war sehr hart, doch auch die langen Klassiker in den Fluchtgruppen haben mich sehr erschöpft. Nach der Flandern-Rundfahrt fühlte ich mich sehr müde. Ich hätte mir mehr Zeit geben sollen, um mich zu erholen. Es war aber ein Übergangsjahr, in dem ich viele Klassiker fahren wollte. 

Haben Sie nach der Italien-Rundfahrt mit dem Gedanken gespielt, nicht mehr um das Gesamtklassement bei einer Grand Tour zu fahren?
Ich mag Herausforderungen und arbeite gerne an mir. Es wäre zu einfach, zu sagen, dass die großen Rundfahrten nichts für mich sind, weil ich zu schwer bin. In diesem Jahr wird eine Platzierung im Gesamtklassement allerdings keine Rolle spielen. Wenn man sich die Konkurrenz und die Strecke bei der Tour anschaut, dann wird es einfach zu schwierig. Selbst das Zeitfahren ist sehr anspruchsvoll. Ich glaube, dass ich erfolgreicher bin, wenn ich in Frankreich Etappen anvisiere. 

Vor der Tour werden Sie sich aber erst mal auf die Klassiker fokussieren. Da Sie letztes Jahr zu diesen Rennen in einer guten Verfassung waren, haben Sie wohl nicht viel an Ihrer Vorbereitung verändert. 
Ich habe mehr Krafttraining betrieben, ansonsten bleibt beinahe alles gleich. Ich werde noch an den Strade Bianche und am Tirreno-Adriatico teilnehmen. Am Anfang der Saison werde ich die Rundfahrt in Kolumbien fahren, wo wir in der Höhe sind. Das hilft mir, um mich auf die folgenden Klassiker vorzubereiten. Die Strecke bei der Flandern-Rundfahrt liegt mir sehr gut. Wir können dieses Rennen mit unserer Mannschaft strategisch angehen. Bei Paris-Roubaix ist es eher eine Lotterie. 

Wird der Fakt, dass Sie im letzten Jahr so stark bei den Klassikern waren, Ihren Rennstil in diesem Jahr verändern? 
Im letzten Jahr hatte ich bei den Klassikern nicht so viel Selbstvertrauen. Ich wusste nicht, dass ich einer der stärksten Fahrer sein würde. Wenn ich in diesem Jahr dieselbe Form wie im letzten Jahr haben sollte, werde ich auf Sieg fahren. 

Julian Alaphilippe wird bei der Flandern-Rundfahrt ebenfalls an den Start gehen. Wer wird die Mannschaft bei diesem Rennen anführen?
Ich möchte nicht in der Haut der sportlichen Leiter stecken. Aber das ist es, was unsere Mannschaft ausmacht. Wir haben für jede Situation einen Fahrer, der reagieren kann: Kasper Asgreen war letztes Jahr Zweiter, dazu kommen starke Fahrer wie Florian Sénéchal, Zdenek Stybar, Julian Alaphilippe, Yves Lampaert und Iljo Keisse. Wir sind so breit aufgestellt, dass wir zwei Mannschaften an den Start schicken könnten. 

Also gibt es im Wolfpack, wie Ihre Mannschaft genannt wird, keinen designierten Leitwolf? 
Letztes Jahr war es oft Philippe Gilbert, weil er die meiste Erfahrung hatte. Nach den ersten Rennen der Saison haben wir aber gesehen, dass Stybar und ich am stärksten waren. Bei der Flandern-Rundfahrt gehörte ich dann zu den Favoriten – die Rolle wechselte zwischen uns. Das Wichtigste ist aber, dass jeder für jeden arbeitet. Wenn es in diesem Jahr jemand gibt, der besser ist, dann wird er die Mannschaft anführen. Das heißt aber nicht, dass kein anderer ein Rennen gewinnen kann.

Und für Ihr Programm nach den Klassikern: Haben Sie sich schon eine Etappe der Tour ausgeguckt? 
Nein, so weit bin ich noch nicht in der Planung. Ein Ziel sind aber die Olympischen Spiele, auch wenn es ein schwieriger Parcours ist. Es hängt sehr davon ab, wie man die Tour de France verkraftet. Aber wenn ich nach Tokio fahre, möchte ich ein gutes Resultat bringen. 

Ist es möglich, während der Tour das Gesamtklassement anzuvisieren, um nur sechs Tage später erfolgreich beim olympischen Straßenrennen abzuschneiden?
Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Deswegen kommt es mir zugute, dass ich bei der Frankreich-Rundfahrt nicht auf eine Platzierung im Gesamtklassement fahren werde.

Zur Person:

Geboren am: 22. September 1992
Profi seit: 2013
Team: Deceuninck – Quick Step (Vertrag bis 2020), zuvor Trek-Factory Racing (2013-2016)
Größte Erfolge 2019: Etappensieg bei der Tour of Colombia, Sieg bei Kuurne-Brüssel-Kuurne, 8. im Gesamtklassement von Paris-Nice, 3. bei Dwars door Vlaanderen 

Vorläufiges Rennprogramm:
11.-17. Februar: Tour of Colombia 
29. Februar: Omloop Het Nieuwsblad 
1. März: Kuurne-Brüssel-Kuurne
7. März: Strade Bianchi 
11.-17. März: Tirreno-Adriatico
27. März: E3 BinckBank Classic
5. April: Ronde van Vlaanderen – Flandern-Rundfahrt 
12. April: Paris-Roubaix
ab 27. Juni: Tour de France

Guidon
11. Januar 2020 - 11.04

Als Nachwuchsfahrer solte man sich nicht gleich auf den Hattrick konzentrieren,soll heißen Giro,Tour und Vuelta zu fahren und auch noch vielleicht zu gewinnen. Diese Leistung war nur wenigen Fahrern vergönnt. Der Giro steht der Tour in nichts nach und ist somit eines der schwersten Rennen.

trottinette josi
11. Januar 2020 - 10.05

Jungels ist m.E. nach kein Rennfahrer für drei wöchige Rundfahrten. Er sollte sich auf die Klassiker fokussieren. Physisch ist er sehr stark, mental wahrscheinlich weniger. Und die Psyche ist genau so wichtig wie die Physis und kann, mittels eines Spezialisten, ebenso trainiert werden. Moral und Selbstbewusstsein spielen im modernen Sport eine erhebliche Rolle.