Alain spannt den BogenZum 80. Mal knallten die Champagnerkorken

Alain spannt den Bogen / Zum 80. Mal knallten die Champagnerkorken
Willy Boskovsky leitete die Tradition des Stehgeigers ein, der das Neujahrskonzert aus dem Orchester heraus dirigierte

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Am 1. Januar war es wieder so weit. Die Wiener Philharmoniker spielten ihr legendäres Neujahrskonzert, das mittlerweile in über 90 Länder übertragen wird und weltweit von mehr als 50 Millionen Menschen gesehen wird. 2020 standen Werke von Carl Michael Zierer, Franz von Suppé, Josef Hellmesberger, Hans Christian Lumbye, Jubilar Ludwig van Beethoven und natürlich von Josef, Eduard und Johann (Vater und Sohn) Strauß auf dem Programm. In diesem Jahr hatte der lettische Dirigent Andris Nelsons erstmals die Leitung des mittlerweile 80. Neujahrskonzerts übernommen. Grund genug, einmal wieder auf die Geschichte des Neujahrskonzerts zurückzublicken.

Die Geschichte des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker beginnt 1939 – ein Dreivierteljahr nach dem Anschluss an Hitler-Deutschland und ein Dreivierteljahr vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Clemens Krauss leitete nicht am 1. Januar 1940, sondern am 31. Dezember im Großen Musikvereinssaal ein „Außerordentliches Konzert“, das Johann Strauß gewidmet war. Der Reinertrag dieses Benefiz-Konzertes ging an die nationalsozialistische Spendenaktion Kriegswinterhilfswerk. Krauss hatte sich gegen Neujahr ausgesprochen, weil er befürchtete, dass ein Teil des Publikums nach den Silvesterfeiern alkoholisiert zu dem Konzert kommen könnte. Am 1. Januar 1941 wurde die Philharmonische Akademie „Johann Strauss-Konzert“ veranstaltet. Inmitten des Krieges wurde dieses Konzert, das wieder von Krauss geleitet wurde, von vielen Menschen als „echt wienerisches Freudenfest“ verstanden, aber auch von der nationalsozialistischen Propaganda im „Großdeutschen Rundfunk“ vereinnahmt.

Dunkle Anfänge

Die Leugnung und Verdrängung des typisch Österreichischen – als Antipode zur Deutschen Kultur einerseits, und die Förderung des Harmlosen, des Lokalkolorits und des Lieblichen andererseits – waren damals Teil der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Kunst durfte im NS-Regime nicht wehtun und verstören, sondern sollte entweder das Erhabene fördern oder eben das Liebliche und Hübsche darstellen. Insofern passten die Wiener Operette und die Walzer der Familie Strauß bestens in das kulturpolitische Konzept von Josef Goebbels und Baldur von Schirach, dem Wiener Gauleiter und Reichsstatthalter. Schirach war übrigens auch für die Deportation der Wiener Juden verantwortlich. Somit wurde den Wiener Philharmonikern von der NS-Kulturpolitik explizit aufgetragen, die Werke der Strauß-Dynastie zu fördern, was einem puren Eskapismus, also einer kompletten Realitätsflucht, gleichkam. In Wien wurde mit den seligen Walzerklängen das Leben gefeiert, während die Nazis zeitgleich einen blutigen Weltkrieg herbeiführten und der Holocaust das Leben von Millionen von Juden, Behinderten, Asozialen und politischen Gegnern auf grausamste Weise auslöschte und vernichtete.

Spiritus Rector Clemens Krauss

Bis dahin hatten die Wiener Philharmoniker ein eher zwiespältiges Verhältnis zu der legeren Musik des Walzers und der Polkas. Nur periodisch hatte man sich bis dahin dieser Musik angenommen und wenn, dann wird sie meistens bei großen Anlässen, aber kaum im Konzert gespielt. Erst unter Clemens Krauss wurde der Grundstein für die heute bestehende Strauß-Tradition gelegt.

Krauss hatte sich schon immer für diese Musik eingesetzt. Ein Prototyp des Neujahrskonzertes fand am 11. August 1929 anlässlich der Salzburger Festspiele statt. Es war ein Konzert, bei dem die Wiener Philharmoniker unter Krauss ausschließlich Werke von Johann Strauss (Sohn) aufführten. Ähnliche Konzerte folgten bis 1933 und dann noch in den Jahren 1939, 1942 und 1943. Krauss übernahm dieses Salzburger Konzert und setzte es dann in Wien als Konzert zur Jahreswende und als ein Stück Weltflucht auf das Programm. Als „echt wienerisches Freudenfest“ wurde es vom Rundfunk auch an die Front übertragen und Krauss dirigierte es bis zum Untergang des Regimes 1945.

Ab 1940 kamen Programme mit Wiener Walzern so richtig in Mode und die Wiener Philharmoniker spielten diese Musik dann auch unter anderen Dirigenten wie Leopold Reichwein, Hans Knappertsbusch, Karl Böhm oder Rudolf Moralt. Es waren meist RAVAG-, NSDAP-, Wehrmachts- oder Arbeiterkonzerte, die nicht nur in Wien, sondern auch in Deutschland und den besetzten Gebieten gespielt wurden. Nach dem Krieg und 18 Tage nach der Schlacht um Wien dirigierte Clemens Krauss im Wiener Konzerthaus ein Strauß-Programm mit den Wiener Philharmonikern und hoffte insgeheim, dass sich sein Einsatz für die urwienerische Musik bei den Siegermächten positiv für ihn auswirken könnte. Doch die Verstrickungen des Dirigenten in die NS-Kulturpolitik wurden offengelegt und er wurde mit Auftrittsverbot belegt.

Ein Stehgeiger übernimmt

Für die Neujahrkonzerte 1946 und 1947, die trotzdem weitergeführt wurden, engagierte man den nichtbelasteten Josef Krips. Krips diente jedoch nur als Platzhalter für Krauss, der am 1. Januar 1948 wieder vor den Philharmonikern stand und das Neujahrskonzert nun alljährlich bis zu seinem Tode 1954 dirigierte. Auch nach dem Tode von Krauss wurde Krips nicht wieder eingeladen. Stattdessen berief man sich auf die Tradition des Stehgeigers, der das Neujahrskonzert aus dem Orchester heraus dirigierte.

Diese Aufgabe fiel Willy Boskovsky zu, dem Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, der 1955 sein erstes Neujahrskonzert leiten durfte. Es wurde eine der erfolgreichsten und langfristigsten Zusammenarbeiten der Musikgeschichte. Von 1955 bis 1979 leitete Boskovsky insgesamt 25 Mal das traditionsreiche Konzert. In seine Zeit fiel dann auch die erste Fernsehübertragung 1959. In den kommenden Jahren gewann das Neujahrkonzert unter Boskovsky enorm an internationaler Popularität.

Nachdem Boskovsky 1979 die Leitung krankheitshalber abgab, übernahm der designierte Direktor der Wiener Staatsoper Lorin Maazel die Geschicke des Konzerts. Von 1980 bis 1986 dirigierte er alle Neujahrskonzerte. Und mit Maazel hatte man einen der wirklich großen internationalen Stars und ein neues Gesicht für das Neujahrskonzert gewonnen. Die Popularität wuchs dank Fernsehübertragungen und Live-Aufnahmen weiter. Nach Maazel, der auch in den kommenden Jahren regelmäßig zurückkehrte, behielt man den „Stardirigenten“ als Leiter für das Neujahrskonzert.

Ab 1986 reichten sich Herbert von Karajan (1987) Claudio Abbado (1988, 1991), Carlos Kleiber (1989, 1992), Zubin Mehta (1990, 1995, 1998, 2007, 2015), Riccardo Muti (1993, 1997, 2000, 2004, 2018), Lorin Maazel (1994, 1996, 1999, 2005), Nikolaus Harnoncourt (2001, 2003), Seiji Ozawa (2002), Mariss Jansons (2006, 2012, 2016), Georges Prêtre (2008, 2010), Daniel Barenboim (2009, 2014), Franz Welser-Möst (2011, 2013), Gustavo Dudamel (2017) und Christian Thielemann (2019) den Taktstock weiter. Und dieser ging dieses Jahr an den Chefdirigenten des Boston Symphony Orchestra und des Gewandhausorchesters Leipzig, nämlich Andris Nelsons.

Auch in Sachen Aufnahmen ist das Neujahrskonzert natürlich bestens dokumentiert. Ab 1979 (unter Boskovsky) ist jedes Konzert live mitgeschnitten und (auszugsweise oder komplett) auf CD veröffentlicht worden. Ein von Decca veröffentlichtes „New Year“ Concert mit den Wiener Philharmonikern und Clemens Krauss wird fälschlicherweise als 1. Neujahrskonzert angekündigt. Tatsächlich handelt es sich um eine Studioaufnahme vom September 1951. Als Highlights aus über 40 Jahren Neujahrskonzert-Aufnahmen gelten die Mitschnitte unter Maazel, Karajan, Kleiber und Jansons. Anlässlich des 75. Neujahrskonzerts veröffentlichte Sony eine Jubiläumsbox mit 23 CDs und vielen unveröffentlichten Aufnahmen. Es darf also auch nach dem 1. Januar noch getanzt und gefeiert werden.