Konflikte an den FeiertagenWarum gerade an Weihnachten die Fetzen fliegen können

Konflikte an den Feiertagen / Warum gerade an Weihnachten die Fetzen fliegen können
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Eigentlich ist Weihnachten das Fest der Liebe. Aber oft entladen sich dann die heftigsten Familiengewitter. Warum das so ist? Daisy Schengen fragte bei einer Psychologin nach.

Nur noch wenige Tage, dann ist Heiligabend. Die Familie kommt zusammen. Es wird gekocht, gefeiert … und gestritten. Denn zu keinem anderen Zeitpunkt entladen sich Familienkonflikte teilweise so heftig wie in der Weihnachtszeit. „Enge (Familien-)Beziehungen sind anfällig für ambivalente Gefühle. Diese Gefühle sind weder nur positiv noch nur negativ. Sie treten gleichzeitig auf und erscheinen oft unvereinbar“, führt Psychologin Dr. Isabelle Albert von der Universität Luxemburg im Tageblatt-Gespräch aus.

Der Schweizer Soziologe Kurt Lüscher hat das Konzept der Ambivalenz, der Doppeldeutigkeit, das bereits 1910 vom Psychiater E. Bleuler formuliert wurde, in der Erforschung von Familienbeziehungen eingeführt (siehe „Streitende Liebe. Zur Soziologie familialer Konflikte“, 1994). Laut Lüscher sind besonders enge zwischenmenschliche Beziehungen dazu bestimmt, von ambivalenten Gefühlen geprägt zu werden.

„In unseren Beziehungen gibt es nicht nur Solidarität oder nur Konflikte. Dazwischen passiert ein Hin- und Herschwanken zwischen den Polen“, erklärt Isabelle Albert. „Das Hin- und Herschwanken passiert besonders dann, wenn keine ‘Exit options’, also keine Auswege, vorhanden sind.“ Und so kann es an Weihnachten passieren, dass unterschwellige Konflikte, die man verdrängt hat, wenn man zusammen ist, wieder ‘auf den Tisch’ kommen. „Und eskalieren“, fügt Albert hinzu.

Hierarchien und Erwartungen

„Gleichzeitig sind an Weihnachten hohe Erwartungen geknüpft“, sagt die Psychologin. Alles soll perfekt sein, die Vorbereitungen sind mit (viel) Stress verbunden, der sich anstaut und pünktlich zum Fest entlädt.

Unterschiedliche Erwartungen bergen Konfliktpotential. Beispielsweise dann, wenn Kinder ihre Eltern besuchen und beide Seiten unterschiedliche Vorstellungen vom Ablauf des Festes haben. Während die Eltern auf gemeinsame Zeit setzen, wollen ihre erwachsenen Kinder möglicherweise Freunde besuchen oder haben Verpflichtungen mit der eigenen, neuen Familie.

Perfekte Zeit für Konflikte

Unterschiedliche Erwartungen, aber auch gesellschaftliche Normen und soziale Vergleiche erzeugen Druck auf beiden Seiten, führt Isabelle Albert aus. „Was sagen die Leute in der Kirche, wenn wir nicht gemeinsam die Weihnachtsmesse besuchen?“ oder „Bei den anderen verläuft das Fest viel harmonischer und bei uns nicht“. Nicht ganz unschuldig an diesem Gedankenkarussell ist außerdem das Bild des Festes, das uns die Medien vorgaukeln, so die Expertin.

Und so entpuppen sich die Feiertage als „perfekte“ Zeit für Konflikte. Wenn man zur Ruhe kommt, Abstand von dem Alltag nimmt, Zeit zum Nachdenken hat und möglicherweise gemeinsam am Festtagstisch sitzt, dann reicht eine Kleinigkeit aus, um die Stimmung explodieren zu lassen.

Klärungsbedarf und Pflichtbewusstsein

Unstimmigkeiten entstehen dann, wenn es mitunter „keine klare Grenzen gibt und Eltern und Kinder unterschiedlichen Vorstellungen haben“, erklärt Isabelle Albert. Zum Beispiel dann, wenn die Kinder Autonomie anstreben und bestimmte Bereiche als privat betrachten, während sich die Eltern darüber hinwegsetzen. Klassischer Fall in diesem Zusammenhang ist die Kindererziehung. Viele junge Familien kennen das: Bei Opa und Oma gelten die Regeln von Mama und Papa teilweise wenig bis gar nicht.

Das “Reinreden” in die Kindererziehung ist dabei nicht die einzige Ursache für ein Streitgespräch. Eine weitere ist der Zwiespalt, in dem  erwachsene Kinder gegenüber ihren Eltern stecken. An den Feiertagen wollen sie Zeit mit den Menschen verbringen, die sie lange nicht gesehen haben, schön zusammen kochen, eine festliche Stimmung verbreiten und erleben. Es den Eltern recht machen. Doch in diesem Zwiespalt reiben sich die Kinder auf, sagt die Psychologin. Denn: „Sie wollen gleichzeitig ihr eigenes Leben weiterführen.“

Beziehungsstrukturen

Isabelle Albert rät beiden Seiten, sich über die eigenen Vorstellungen klarzuwerden. Wie viel Zeit sollte den eigenen Eltern, der Schwiegereltern und dem Freundeskreis vorbehalten werden? Beziehungsstrukturen, Familienregeln und Wechselwirkungen unter den Familienmitgliedern bezeichnen Fachleute als „Familienkultur“.

„Jede kleine Familie hat ihre eigene Familienkultur», erklärt Albert. „An Weihnachten treffen unterschiedliche Familienkulturen und Erwartungen an Beziehungen unter den Familienmitgliedern unmittelbar aufeinander. Und unterschiedliche Erwartungen bergen Konfliktpotential“, schildert die Psychologin.

Des Problems Lösung

Die Beteiligten sollten versuchen, mögliche Konflikte im Vorfeld auszuhandeln. Immer im Einklang mit der jeweiligen Familienkultur, rät Albert. Was sie damit meint, sind offene Gespräche. Eine Ideallösung, die für alle funktioniert, gäbe es dabei nicht. Für welche Methode man sich entscheidet, hängt maßgeblich vmm Thema, der Familienkultur und der Persönlichkeit aller Beteiligten ab.

In der Praxis gäbe es Familien, die offen miteinander Dinge klären und andere, die „indirekt kommunizieren“. In beiden Fällen ist Fingerspitzengefühl gefragt. Besonders wichtige Erwartungen wie die Gestaltung des Festes oder die  Zeit, die man miteinander verbringen möchte, sollten im Vorfeld angesprochen werden, ohne dass gleichzeitig ein Konflikt ausgelöst wird.

Andere Perspektiven einnehmen

Um das eigene Verhalten in bestimmten Situationen besser zu verstehen, hilft der Blick auf die individuelle Persönlichkeits- und Beziehungsgeschichte. „Warum reagiere ich bei dieser Aussage so? Was ist vorher in diesem Zusammenhang passiert?“, sind mögliche Wegweiser. „Dabei sollte man immer versuchen, die Perspektive des anderen einzunehmen“, unterstreicht die Psychologin. Kinder sollten sich in die Erwartungen der Eltern und umgekehrt hineinversetzen.

„Und dann sollte man sich ermahnen, dass nicht alles perfekt sein muss“, erklärt Albert. Gerade an Weihnachten gilt Gelassenheit statt Perfektion. Wie das „ideale“ Fest aussieht, ist für jeden Menschen höchst individuell. „An Weihnachten geht es darum, sich Zeit zu nehmen, um gemütlich beisammen zu sein. Und das muss nicht perfekt sein.“

Unsere Expertin

Dr. Isabelle Albert ist Forscherin am Institut für Generationen und Familienforschung (Igefa). Sie hat Psychologie in Deutschland und Italien studiert und im Rahmen des interkulturellen und interdisziplinären „Value of Children“-Projektes promoviert sowie eine Ausbildung zur systemischen Familienberaterin bei der „Fondation Kannerschlass“ (Luxemburg) / ifs Essen (Deutschland) absolviert. 

Dr. Isabelle Albert
Dr. Isabelle Albert Foto: Uni.lu

den Idealist
25. Dezember 2019 - 10.09

Durch die übers ganze Jahr aufgestaute Wut, kommt es ausgerechnet zu Weihnachten, wenn die ganzeFamilie vereint ist- auch die, die man nicht besonders mag-oft zu einer Explosion der negativen Gefühle und zu Streitigkeiten. Das kommt daher, dass Weihnachten, seinen ursprünglichen Sinn abhanden gekommen ist und es zum Höhepunkt des Konsums mutiert ist. Stress pur, von Besinnlichkeit nicht die Spur. Und dann steht schon das nächste Pflichtfest bevor: Sylvester und Neujahr. Von wegen Friede, Freude, Eierkuchen! Erneut Stress und gute Miene zum bösen Spiel. Das alles kann ganz schön an die Substanz gehen. Doch es geht auch anders. Man muss nicht mit dem Strom schwimmen und mit den Wölfen heulen und den Nachbarn übertreffen. Früher jedenfalls kannte man diese Hektik zum Jahresende nicht.Das waren dann doch wesentlich geruhsamere Festtage.