Die Antisemitismus-Definition und Luxemburg

Die Antisemitismus-Definition und Luxemburg

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Am 3. und 4. April 2019 stellte das Tageblatt Herrn Claude Grégoire jeweils eine Seite zur Verfügung, damit er seine Meinung zur (nicht ganz so) neuen IHRA-Definition von Antisemitismus äußern möge. Dies unter dem reißerischen Titel: „Darf man noch frei denken und Israel kritisieren?“

Von Bernard Gottlieb

Zuerst möchten wir Herrn Grégoire beruhigen. Ja, man darf in Luxemburg frei denken. Ja, man darf auch von Luxemburg aus Israel und selbstredend auch die Politik seiner Regierung kritisieren. Das kann und darf man natürlich auch in Israel und viele Israelis scheuen sich keineswegs, dies zu tun, manchmal auf eine sehr vehemente Art und Weise, wobei gelegentlich ausgesprochen derbe Schimpfwörter benutzt werden.

Über die Definition der IHRA zum Thema „Antisemitismus“ ist schon viel geschrieben worden. Die europäische pro-palästinensische Lobby ECCP hat sogar ein Dokument publiziert mit „Argumenten“, um diese Definition zu brandmarken. Daran zehren Organisationen wie der CPJPO (welcher der ECCP angehört) und dessen Wortführer (wie eben auch der vormalige Vorsitzende, Claude Grégoire). Dazu zählen kann man auch Jean Feyder, der am 11. März 2019 auf Radio 100,7 behauptet hat: „Organisatioune ginn an de Verdacht geholl, Antisemitismus ze bedreiwen; Ausdrocksfräiheet an Demokratie ginn duerch d’IHRA-Definitioun gefährt, an dat minéiert och de Respekt vum internationale Recht, a finalement minéiert dat de Kampf – de wierkleche Kampf – géint den Antisemitismus.“

Dazu drei sehr generelle Fragen: Wie ist es möglich, dass hochkarätige Delegationen aus 31 demokratischen Ländern, darunter Luxemburg, eine solche, „die Demokratie gefährdende“ Definition einstimmig angenommen haben?

Und wie ist es möglich, dass diese Definition inzwischen von 18 dieser Länder, aber auch von Institutionen, Parteien, Städten usw. angenommen wurde?

Welche sind die Kenntnisse, die Feyder dazu befähigen, zu bestimmen, was denn nun der „wirkliche“ Kampf gegen Antisemitismus sei?

Wirksame Bekämpfung von Antisemitismus

Die Antwort fällt nicht sehr schwer: Diese IHRA-Definition stellt keine Bedrohung für die Ausdrucksfreiheit und für die Demokratie dar. Sie ist lediglich ein Mittel zur wirksamen Bekämpfung der Antisemitismus-Geißel. Wozu also diese Aufregung?

Erstaunlich ist, dass Grégoire so viel Wert darauf legt, in Israel Juden zu finden, die aufgrund der IHRA-Definition – so, wie er sie interpretiert – als Antisemiten dargestellt werden würden. Schauen wir uns ein Beispiel an. Grégoire schreibt: „Der Knesset-Abgeordnete Tommy Lapid erzürnte sich einstmals gegen das Einbrennen von Nummern in die Arme der palästinensischen Gefangenen, dies sei ‹unerträglich für einen Holocaust-Überlebenden›. Auch er wäre ab jetzt ein Antisemit.“

Dieser Aussage Lapids können wir nur beipflichten. Es wäre allerdings durchaus hilfreich gewesen, die Quellen anzugeben, um diese Aussage in ihren Kontext zu stellen, wir haben sie nämlich nicht wiederfinden können. Soweit wir informiert sind, hat es solche Tätowierungen palästinensischer Gefangenen nie gegeben. Aber wie auch immer, Lapid stellt sich ganz eindeutig gegen eine solch inhumane Praxis, sollte diese bestanden haben. Wie kann man aber auf dieser Grundlage behaupten, Lapid würde wegen einer solchen Aussage laut IHRA-Definition als Antisemit gelten? Frei denken kann man durchaus, aber womöglich in einer intellektuell ehrlichen Art und Weise. Ansonsten wird aus diesem vermeintlichen Argument bestenfalls einfältige Propaganda.

Prinzip von Aktion und Reaktion

Im Artikel vom 4. April beklagen sich Anhänger des Boykotts israelischer Waren und Firmen, aber auch israelische Akademiker, Wissenschaftler, Künstler, dass sie jetzt ihrerseits als Reaktion auf ihr Handeln gelegentlich selbst boykottiert werden. Das nennt man das Prinzip von Aktion und Reaktion in der Physik, und dies sollte auch Grégoire und dem CPJPO, der ja bekanntermaßen die BDS-Lobby in Luxemburg vertritt, bekannt sein. Grégoire begibt sich auf Glatteis, wenn er behauptet, es gebe Juden, die sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet fühlen als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer. Und meint, somit wäre er ab jetzt ein Antisemit.

In anderen Worten stellt er also einige nicht benannte hypothetische Juden in der Diaspora als 5. Kolonne heraus. Und wenn er von den „angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen“ spricht, zapft Grégoire das gefährliche Narrativ der weltweiten Verschwörung an, wie sie zum Beispiel durch die „Protokolle der Weisen von Zion“ weltweit propagiert wurde und noch weiter propagiert wird.

Könnte man nicht ähnlich banale Aussagen machen bezüglich anderer Personengruppen in anderen Ländern? Hat es denn nicht auch Luxemburger gegeben, denen man solches hätte anhängen können? „Gielemännercher“ müsste wohl auch für Grégoire ein Begriff sein, und die waren doch Hitler-Deutschland und dem Nazismus verpflichtet. Hat es denn nicht auch Luxemburger Kommunisten gegeben, die Stalins Sowjetunion und dem Marxismus verpflichtet waren?

Weshalb nun gerade Juden hervorheben und ihnen solches unterstellen? Juden als 5. Kolonne und die jüdische Weltverschwörung: Das klingt in der Tat wie Antisemitismus, mit oder ohne IHRA-Definition. Und das darf man ja wohl noch anprangern dürfen!
Gegen Ende seines Beitrags echauffiert sich Grégoire, er werde wie viele andere aufgrund seines Engagements regelmäßig des Antisemitismus bezichtigt. Oder war es aufgrund von Aussagen ähnlich wie jenen, von denen er in seinem Artikel ja einige Kostproben liefert?

Zeit der „Sippenhaft“ ist glücklicherweise vorbei

Ein Wort zum luxemburgischen Regierungsmitglied, von dem im Artikel die Rede ist. Jeder ist für seine Taten verantwortlich, auch Regierungsmitglieder, aber nicht für die Taten oder Aussagen von Familienangehörigen (oder vermeintlichen Familienangehörigen, Freunden, sogar Parteifreunden und Bekannten). Die Zeit der „Sippenhaft“ ist glücklicherweise vorbei. A propos Regierungsmitglied: Man kann sich durchaus vorstellen, wer hier gemeint ist. Leute angreifen aufgrund dessen, was sie sind, und nicht aufgrund dessen, was sie tun … wenn das in diesem Kontext nicht antisemitisch ist? Als hätten die vorherigen Aussagen nicht gereicht!

Zum Schluss eine Frage. Was ist denn jetzt schlimmer: als Nazi oder als Antisemit verunglimpft zu werden?

Beides ist schlimm, aber mir scheint, einen Juden als Nazi hinzustellen ist eigentlich das Schlimmste. Antisemitismus war bei den Nazis integraler Bestandteil ihrer Ideologie, mit den gut bekannten Folgen, nämlich der Schoah. Dass also solch generelle Vergleiche zwischen Nazis und Israelis unangebracht und politisch zu verurteilen sind, schreibt ja übrigens auch Grégoire in diesem Artikel, wofür wir uns bei ihm bedanken möchten. Weshalb erscheint ihm dann das Beispiel in der IHRA-Definition, laut dem Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten antisemitisch seien, so dramatisch schlimm? Liest man nicht regelmäßig solche Vergleiche aus der Feder von radikalen Antizionisten, auch bei Mitgliedern oder Sympathisanten des CPJPO, als dessen Präsident Grégoire bis vor nicht allzu langer Zeit wirkte und dessen Verwaltungsratsmitglied er weiter ist? Verurteilt Grégoire solche Vorkommnisse? Wirkt er aktiv mit, dies zu verhindern und Diskussionen auf ein akzeptables Niveau zu bringen? Schön wär’s, wenn er das öffentlich täte. „Be part of the solution, not of the problem“, wie man so schön sagt!

„Be part of the solution, not of the problem“

Ich sehe es als meine Aufgabe an, antisemitische Aussagen und Handlungen bloßzustellen und darüber zu berichten – und nicht jemanden als Antisemiten zu brandmarken. Das kann unsere Justiz tun, indem sie jemanden verurteilt, zum Beispiel wegen des Tatbestands der Holocaustleugnung oder wegen Antisemitismus. Genauso wie wir antisemitische Aussagen nicht akzeptieren, finden wir es auch inakzeptabel, jemanden leichtsinnigerweise als Nazi zu brandmarken, nur weil man seine politischen Positionen nicht teilt. Israel als Staat und die jüdischen Israelis als Nazis darzustellen ist unannehmbar! In Israel passiert gerade kein Genozid. Das zu behaupten, wäre eine Lüge und eine extreme Verharmlosung des Begriffs „Genozid“ und der Singularität des Holocaust.

Grégoire hat gezeigt, wie seine wirkliche Haltung zu Juden ist, und er bekräftigt damit die Theorie, dass Antisemitismus zu Antizionismus führen kann, genauso wie Antizionismus seinerseits Antisemitismus potenzieren kann: also zwei Phänomene, die sich gegenseitig bedingen.

Dieser Beitrag von Grégoire bestätigt aufs Neue, dass die offizielle Akzeptanz der IHRA-Definition zum Antisemitismus durch Luxemburg wichtiger und dringender ist denn je.