Alle fünf grundlegenden Sektoren, die zusammen eine Zivilisation ausmachen – Energie, Transport, Nahrungsmittel, Informationen und Materialien – sind gerade von schnellen technologischen Umwälzungen betroffen. Diese Veränderungen zeigen den wirtschaftlichen Teufelskreis der heutigen dominanten Rohstoffindustrie, der höhere Arbeitslosigkeit, stärkere Ungleichheit und zivile Unruhen erwarten lässt.
Aber diese „globale Phasenverschiebung“ kann auch die Basis für einen neuen zivilisatorischen Lebenszyklus liefern. Von den folgenreichsten technologischen Umwälzungen, die der Kampf gegen den Klimawandel auslöst, sind drei grundlegende Sektoren betroffen – Energie, Transport und Ernährung, die zusammen für 90 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich sind.
Fossile Energien müssen den massiven Möglichkeiten der Solar- und Windenergie sowie der Batteriespeichertechniken (SWB) weichen. Private Verbrennungsfahrzeuge werden von Elektrofahrzeugen überholt, die irgendwann sogar ohne Fahrer auskommen werden. Viehwirtschaft und kommerzieller Fischfang werden durch Präzisionsfermentierung und zellulare Landwirtschaft abgelöst, mit denen wir alle Arten von Proteinen erzeugen und entwerfen können, ohne dafür Tiere töten zu müssen.
Alle disruptiven Technologien folgen dabei demselben erfahrungsorientierten Feedback-Zyklus: Durch exponentiell sinkende Kosten beschleunigt sich ihre Einführung, bis sie den Markt dominieren. Und sind diese neuen Technologien erst zehnmal günstiger als die bisherigen, werden sie Letztere schnell ersetzen. Die Verdrängung der Pferde durch Autos, der Festnetzanschlüsse durch Mobiltelefone und der Rollfilme durch Digitalkameras dauerte jeweils 10 bis 15 Jahre.
Öl, Gas und Kohle
Im Rahmen eines solchen Verdrängungswettbewerbs werden nicht nur einzelne Komponenten ersetzt, sondern es entstehen völlig neue Systeme mit besonderen Eigenschaften. Und erstmals in unserer Geschichte zeigen neue Technologien einen klaren Weg, um das Zeitalter der Knappheit zu beenden.
Öl, Gas und Kohle werden ineffizienter und teurer. Der Wert der Energie, den sie erzeugen, ist in den letzten zwei Jahrzehnten – relativ zu der Energie, die sie benötigen – um über die Hälfte zurückgegangen. Aber für SWB gilt das Gegenteil: Dort steigt die Energierendite (energy return on investment, EROI) exponentiell an.
Wie ich in einem aktuellen Earth4All-Thesenpapier erkläre, besteht die günstigste SWB-Kombination in einer Vergrößerung der Solar- und Windkapazität um das Drei- bis Fünffache der bestehenden Nachfrage. Diese „Superkapazität“ – dass also über den größten Teil des Jahres hinweg zu Nullgrenzkosten mehr Energie erzeugt wird, als es mit den bisherigen fossilen Systemen möglich war – würde die allgemeinen Systemkosten erheblich verringern, da keine wochenlange saisonale Batteriespeicherung mehr nötig ist.
Schweizer Wissenschaftler haben gezeigt, dass ein solches System bis zu zehnmal mehr Energie erzeugen kann, als wir momentan verbrauchen. So könnten viele Industriesektoren – von der Abwasserbehandlung und Wiederverwertung bis hin zu Bergbau und Produktion – elektrifiziert werden. Außerdem wird dieses System im Gegensatz zum momentanen fossilen System keinen ständigen Materialnachschub brauchen. Sobald es einmal errichtet ist, kann es eine Lebensdauer von 50 bis 80 Jahren erreichen.
Von ähnlichen überraschenden Dominoeffekten wird auch der Transportsektor profitieren. Die Kostenkurven von (autonomen) Elektroautos zeigen, dass Mitfahrten im Rahmen von Transportdienstleistungen (Transport-as-a-Service, TaaS) im Jahr 2050 bis zu zehnmal günstiger sein werden als der Besitz und Betrieb eines eigenen Autos. Deshalb wird dann nur noch ein Bruchteil der heutigen Fahrzeugflotte in Betrieb sein. Und da SWB und TaaS viel weniger Batteriespeicherkapazität erfordern, als in konventionellen Analysen erwartet wird, werden dann viel weniger Mineralien zur Batterieherstellung benötigt als heute befürchtet.
Diese Umwälzungen machen auch die gesamte Infrastruktur der bestehenden fossilen Energie-, Transport- und Ernährungssysteme überflüssig. Dazu gehören Ölfördertürme, Gasterminals, Leitungen und Kohlekraftwerke, ebenso wie globale Logistik- und Transportnetzwerke für fossile Energieträger, Vieh oder Viehzuchtprodukte.
Wird diese Infrastruktur abgebaut, besteht ein beispielloses Potenzial für die Rückgewinnung von Metallen. Eisen, Aluminium, Stahl, Kupfer und Kobalt, die in der Ölindustrie verwendet werden, können dann zur Energie-, Transport- und Ernährungswende beitragen.
Außerdem werden durch die Umwälzungen in der Milchwirtschaft 2,7 Milliarden Hektar Land verfügbar, das bisher für die Viehzucht verwendet werden. Diese Flächen könnten zur Verwilderung, für regenerativen Landbau und zur aktiven Wiederaufforstung genutzt werden. So würden großflächige Naturschutzstrategien möglich, um damit atmosphärischen Kohlenstoff zu extrahieren und zu speichern.
„Zeitalter der Freiheit“
In den nächsten zwei Jahrzehnten wird der Wandel der globalen Produktionssysteme einmalige Möglichkeiten schaffen – und uns zu etwas verhelfen, was meine RethinkX-Kollegen James Arbib und Tony Seba das „Zeitalter der Freiheit“ nennen. Außerdem müssen wir, um unsere größten globalen Probleme zu lösen, nicht mehr auf exotische und teure Durchbruchstechnologien warten. Bereits heute stehen uns alle nötigen Werkzeuge zur Verfügung, um ein neues Zeitalter des Überflusses zu schaffen, in dem allen Menschen genug Energie, Mobilität, Nahrungsmittel, Ausbildung und Infrastruktur zur Verfügung stehen – zu einem Zehntel der bisherigen Kosten, und ohne die Kapazität unseres Planeten zu überschreiten.
Aber der Weg hin zu diesem „Zeitalter der Freiheit“ wird nicht leicht sein: Die Umwälzungen gehen schnell, aber nicht schnell genug, um die Welt aus der klimatischen Gefahrenzone zu bringen. Verzögern wir sie, indem wir uns an sterbende traditionelle Industriebereiche klammern, wird der Wandel durch die sozialen, wirtschaftlichen und geopolitischen Folgen verlangsamt oder gar behindert.
Da disruptive Technologien auf wirtschaftliche Anreize reagieren, können die Regierungen diesen Übergang fördern, indem sie die Märkte dafür vergrößern. Dazu müssen nicht nur die Billionen Dollar starken Subventionen und Neuinvestitionen für konventionelle Energien beendet, sondern auch freie und faire Strommärkte geschaffen werden, die den Menschen das Recht geben, Strom zu besitzen und zu handeln. Außerdem müssen quelloffene Systeme intellektueller Eigentumsrechte für globale Entwicklung und lokale Umsetzung entstehen. Und im Bereich der Gebäudeheizung sollten die Regierungen Anreize und Subventionen für eine Elektrifizierung einführen.
In erster Linie müssen wir unsere Einstellung ändern und erkennen, dass wir einen radikalen Wandel von zentralisierter hin zu dezentralisierter Versorgung mit Energie, Transportmöglichkeiten und Nahrungsmitteln brauchen. Dies bedeutet, von einem Top-down- zu einem Bottom-up-Ansatz überzugehen und Hierarchien durch Netzwerke und Knotenpunkte zu ersetzen.
Das alte System stirbt, ein neues wird geboren – und wir stecken mitten in den Geburtswehen. Aber wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen, können wir schnell eine gerechtere und fortschrittlichere Gesellschaft aufbauen, die uns zu beispiellosem universellem und nachhaltigem Wohlstand verhilft. Wir haben keine Zeit zu verlieren – aber alles zu gewinnen.
* Nafeez Ahmed ist Leiter der Globalen Forschungskommunikation bei RethinkX und Kommissar bei der Kommission für Wirtschaftlichen Wandel des Club of Rome.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
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