„Ich kann es einfach nicht verstehen.“ Resigniert schüttelt Frau S. den Kopf. Seit mehr als acht Jahrzehnten wohnt sie schon in der Hauptstadt. Sie hat den Wandel im Bahnhofsviertel aus nächster Nähe miterlebt. Heute wohnen mehrere Mitglieder ihrer Familie in dem von Prostitution und Drogenkriminalität geplagten Viertel. „Und es passiert einfach nichts“, so ihr Fazit.
Mehrmals schon sei man bei den Behörden vorstellig geworden. „Seit Jahren versuchen wir, auf die desaströsen Zustände rund um die Wohnungen aufmerksam zu machen. Außer oberflächlichen Absichtserklärungen und ineffizienter Kosmetik erhalten wir keine Antwort“, so die Seniorin. Manche Familienmitglieder wollen nur noch eins: „Raus aus diesem Bahnhofsviertel!“
Die Zustände, die die rüstige Dame beschreibt, sind in der Tat haarsträubend. Zumal sie noch mit Bildern belegt werden können. Aufnahmen, die dem Tageblatt vorliegen, zeigen unterschiedliche Situationen am Eingang eines Wohngebäudes. Zu sehen sind Gruppen von Drogenabhängigen, die Zuflucht in dem kleinen Eingang suchen, um sich dort einen Schuss zu setzen oder die Drogen auf andere Art zu konsumieren. Manchmal sind es nur drei bis vier Personen. Andere Male weitaus mehr.
„Vor einigen Monaten wurde meine Tochter von einem Abhängigen mit einer Schere bedroht. Dieser wollte sich gerade einen Schuss setzen, als sie ins Gebäude wollte“, erzählt die Dame. Die Polizei könne nur wenig ausrichten. Daran werde auch ein Platzverweis nichts ändern: „Zwei Mal hat die Polizei in den letzten Wochen vor der Haustür eingegriffen. Die Beamten haben die Abhängigen zwar des Einganges verwiesen. Doch sind diese in größerer Anzahl zurückgekommen, als die Beamten wieder weg waren“, so Frau S.
In den letzten sieben Jahren sei die Situation regelrecht explodiert, ohne dass tiefgreifende Maßnahmen ergriffen worden seien. Sie verstehe auch nicht, dass Dealer am helllichten Tag auf offener Straße operieren könnten, ohne dass die Polizei eingreift. Sie habe Verständnis für die Menschen am Rande der Gesellschaft. Es handele sich schließlich um eine menschliche Tragödie. Doch müsse man auch Verständnis haben für die Einwohner und Geschäftsleute, die diesem Treiben nun seit Jahren ausgesetzt seien, ohne dass wirklich etwas passiert.
Nur Verlierer
Maurice Bauer (CSV) kennt das Anliegen von Frau S. Der Sozialschöffe der Stadt Luxemburg ist regelmäßig im Bahnhofsviertel unterwegs, spricht sich tagtäglich mit den Akteuren der unterschiedlichen Einrichtungen ab. Er hat Verständnis für die Einwohner, die regelmäßig vor der eigenen Haustür mit Drogenkonsum und Kriminalität konfrontiert werden. Für ihn liegt es auf der Hand, dass es so nicht weitergehen kann.
Ob der Platzverweis, wie er vor knapp zwei Wochen vom Parlament verabschiedet wurde, etwas an dieser Situation zu ändern vermag, daran hat der Sozialschöffe allerdings so seine Zweifel. „In der aktuellen Form ist der Platzverweis eine überflüssige Maßnahme“, sagt Bauer im Gespräch mit dem Tageblatt. „In dieser Situation kann es nur Verlierer geben … ob Obdachlose und Drogenabhängige, Einwohner oder Polizei.“
Die Polizei gerate ohnehin in eine unmögliche Ausgangslage: Die Luxemburger Ordnungskräfte verfügten wohl nicht über ausreichend Beamte, um all den Anrufen in erster Zeit nachgehen zu können. „Dann kommen die Beamten, um diese Menschen aus den Eingängen zu verweisen. Beamte, die sich schon jeden Tag redlich darum mühen, diesen Menschen zu helfen. Dass in einem solchen Fall Frust aufkommt, wenn die Verwiesenen auf sich alleine gestellt sind und nicht von sozialen Strukturen aufgefangen werden, versteht sich von selbst“, meint Bauer. Und die Einwohner seien wiederum frustriert, wenn die Betroffenen nach kurzer Zeit wieder an gleicher Stelle auftauchen, als wäre nichts gewesen.
Tatsächlich sieht der vom Parlament verabschiedete Platzverweis vor, dass Beamte Menschen aus öffentlich zugänglichen Eingängen von Häusern oder anderen Gebäuden verweisen können. Sollten die Betroffenen einer ersten Aufforderung nicht nachkommen, können die Beamten einen Platzverweis aussprechen. Sollten sie sich dann immer noch weigern, können sie auch mit körperlicher Gewalt aus dem Eingang entfernt werden.
Kritiker haben die Maßnahme als menschenverachtend und unzureichend eingestuft. Die Einführung eines Platzverweises könne nur mit einer Aufstockung der sozialen Maßnahmen einhergehen, so das Argument. Es nütze nichts, Menschen in die Kälte zu schicken, wenn es keine Einrichtungen gibt, wo sie aufgefangen werden. Andernfalls seien sie nach fünf Minuten wieder am gleichen Platz oder im nächsten Hauseingang.
Ähnlich sieht es auch Maurice Bauer. Ihn stört allerdings die Polemik, die manche Beobachter nun zu betreiben versuchten. „Das eigentliche Ziel soll es nicht sein, mit der Polizei Plätze zu räumen, sondern diese Menschen aufzufangen. In Strukturen, die sie begleiten können“, so Bauer. Die Situation sei viel zu gravierend, um jetzt auf dem Rücken der Menschen am Rande der Gesellschaft Politik betreiben zu wollen. „Es ist richtig unangenehm, wie verschiedene Politiker diese schreckliche Situation jetzt ausnutzen wollen, um billige Polemik und Politik zu betreiben. Vielmehr sollten wir alle zusammen versuchen, diesen Menschen mit allen Mitteln zu helfen.“
„Ein breit gefächertes Angebot“
Kritiken an den Angeboten der Stadt Luxemburg will Bauer etwa nicht gelten lassen. „Die Angebote sind extrem breit gefächert“, betont der Sozialschöffe. Gerade erst sei das neueste Projekt der „Jugend- an Drogenhëllef“ mit einem fünften Posten bezuschusst worden. Dieses Projekt sieht 100 Wohneinheiten für Drogenabhängige vor. Gleichzeitig stellen „Accueil et Solidarité“ der Caritas 50 Menschen aus dem Obdachlosenmilieu eine Unterkunft zur Verfügung. „Mit der AIS betreiben wir ein weiteres Projekt für hundert Personen. Dann gibt es noch ein Wohngebäude in Hamm mit Einheiten für Housing First und viele andere Projekte“, so Bauer. „Allein im Wohnbereich gibt es viele Angebote. Von den Tagesstrukturen nicht zu reden.“
Das Problem sei leider viel vielschichtiger: „All die Leute, die jetzt von der Polizei verwiesen werden, die kennen unsere Streetworker persönlich auch. Jedem von diesen Betroffenen haben unsere Mitarbeiter schon unzählige Male Angebote unterbreitet und andere Unterstützung angeboten. Das Problem ist nur: Wir können niemanden in diese Strukturen zwingen. Es ist nicht nur eine Frage des Angebots. Die Betroffenen müssen die Hilfe auch annehmen. Das ist aus unterschiedlichen Gründen nicht immer der Fall“, gibt Bauer zu bedenken. „Manche stellen sich quer und wollen die Hilfe gar nicht annehmen.“
Bei den meisten Menschen, die nachts über Unterschlupf in Hauseingängen suchen, handelt es sich um Schwerstabhängige und Obdachlose, von der die Mehrheit mit teils schweren psychologischen Problemen zu kämpfen hat. „Genau in dieser Hinsicht aber haben wir ein Defizit hier im Land: Es fehlt an niederschwelligen Angeboten in der psychologischen Betreuung und Begleitung“, stellt Maurice Bauer fest. Hier hätten die Gesundheitsbehörden in den letzten Jahrzehnten den Zug verpasst. Die Betroffenen seien alle in einem psychologisch äußerst schlechten Zustand. „Wir brauchen hunderte ambulante Auffangplätze, um diesen Menschen schnell, direkt und wirksam helfen zu können“, so Bauer.
Er hoffe nur, dass dieses Thema nicht im Wahlkampf aufgegriffen wird. „Wir dürfen uns nicht auf ein Niveau begeben, auf dem wir populistische Politik auf dem Rücken dieser Menschen austragen“, wiederholt Bauer. „Vielmehr sollten wir uns gemeinsam bemühen, das Problem an der Wurzel zu packen.“
@JJ/ NICHT GELÖST.....LEIDER NUR VERLAGERT.
@JJ/ NICHT GELÖST.... LEIDER NUR VERLAGERT.
Wie wäre es mit einer _Tür_ am Eingang dieses Wohnhauses?
Stadt Zürich fragen.Die haben das Problem auch gelöst,resp. verlagert.