Headlines

EditorialNach Platzverweis „light“: Wo bleiben die sozialen Reformen?

Editorial / Nach Platzverweis „light“: Wo bleiben die sozialen Reformen?
Immer mehr Menschen fallen durch sämtliche Raster und werden auch von sozialen Angeboten nicht mehr erfasst Foto: Freepik

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Da haben wir ihn nun, den Platzverweis „light“. Polizisten haben fortan die rechtliche Handhabe, Personen aus bestimmten Bereichen zu entfernen – sofern es sich um Ein- oder Ausgänge handelt und die Plätze öffentlich zugänglich sind. Die entsprechende Debatte im Parlament ist mitunter hitzig verlaufen, zum Teil aber auch erschreckend kühl und emotionslos.

Erniedrigend sei diese Maßnahme und beschämend, sagt Nathalie Oberweis von „déi Lénk“. Damit ist sie die einzige Abgeordnete, die während der Debatte jene Menschen wirklich in Schutz genommen hat, die am Rande der Gesellschaft stehen und Gefahr laufen, Opfer von Bürokratie und Willkür zu werden. Ganz allein auf weiter Flur stand sie aber nicht. Sie hat unerwartet Rückendeckung von ungewohnter Stelle erhalten: aus den obersten Reihen der Polizeidirektion.

Tatsächlich sind die Beamten fortan angewiesen, jeden Fall einzeln zu betrachten und Fingerspitzengefühl walten zu lassen. Im Gespräch mit dem Tageblatt spricht Polizeidirektor Pascal Peters von einer Ermessensfrage. Die Polizisten sollen an Ort und Stelle entscheiden, ob ein Verweis die Lage nicht noch verschlimmert. Vor allem dann, wenn es an Alternativen mangelt und die Betroffenen sozial nicht aufgefangen werden. 

Nichts liegt dem Offizier ferner, als Politik zu betreiben. Er denkt lediglich an seine Schützlinge, die fast täglich in der Ausübung ihrer Pflichten mit Armut, Obdachlosigkeit und Drogensucht konfrontiert werden. „Wenn man solche Maßnahmen ausführt, muss man in sozialen oder medizinischen Notfällen auch auf entsprechende Instanzen zurückgreifen können“, sagt Peters. In anderen Worten: Was dient es, Menschen in die Kälte zu schicken, wenn sie dort nicht aufgefangen werden und nach fünf Minuten wieder vor einem anderen Eingang landen – wenn nicht sogar vor dem gleichen.

Damit beweisen Beamte wohl mehr Weitsicht als viele Abgeordnete, die sich in der vergangenen Woche zu dem Thema ausgelassen haben. Manchen Oppositionsmitgliedern geht der Platzverweis sogar nicht weit genug. Die sozialen Implikationen werden aber nur am Rande erwähnt. Mitglieder der Mehrheitsparteien fordern hingegen eine Stärkung der sozialen Maßnahmen, wie „Housing First“ oder den Einsatz von Streetworkern – scheinen dabei aber zu vergessen, dass es ihre Parteien in den letzten zehn Jahren selbst in der Hand hatten, diese Reformen herbeizuführen. „Weise gëllt!“, wie es so schön auf Luxemburgisch heißt.

Natürlich sollte man Verständnis für das Unsicherheitsgefühl der Menschen im Bahnhofsviertel aufbringen. Allerdings ist es fahrlässig, eine repressive Maßnahme einzuführen, ohne gleichzeitig soziale, menschliche Lösungsansätze zu verfolgen. Beide müssen Hand in Hand gehen. Angebote wie die Winteraktion sind ein guter Ansatz, reichen aber nicht mehr aus. Viele Menschen im Milieu haben den Bezug zur Realität verloren, andere tun sich schwer mit Regeln, wollen ihre Habseligkeiten nicht aufgeben oder ihre Hunde in der Kälte zurücklassen. Massenauffangstrukturen sind für viele Betroffene einfach nicht die richtige Lösung.

Unabhängige Strukturen wie die „Stroossen Engelen“ sind immer mehr gefordert. Sie berichten von katastrophalen Zuständen im Milieu, von verlorenem Vertrauen in die Behörden und immer mehr Familien, die kurz vor dem Absturz stehen. Auch sie können nur Symptome bekämpfen – vor allem, da ihr Ansatz vielen Behörden gegen den Strich geht, weil sie nicht in ein multidisziplinäres Konzept passen.

Vielleicht ist es an der Zeit, diese „Konzepte“ gründlichst zu überdenken. Die Wirklichkeit zeichnet nämlich ein anderes Bild: das von Menschen, die durch sämtliche Raster fallen und nicht von den bestehenden Angeboten aufgefangen werden.