Ein Akkord der Ehrungen bestimmte für ihn die erste Jahreshälfte: Anfang Mai wurde bekannt, dass Guy Helminger den diesjährigen Servais-Preis erhält, zwei Wochen später wurde ihm dann noch der renommierte Lyrikpreis Meran zuerkannt. Nicht einmal einen Monat später tauchte der Name des gebürtigen Eschers zum dritten Mal in den Nachrichten auf: Der Autor könne den Gustav-Regler-Preis, der alle drei Jahre in Merzig im Saarland vergeben wird, endlich bei einer offiziellen Veranstaltung entgegennehmen. Die Preisverleihung war der Pandemie zwei Jahre lang zum Opfer gefallen, eigentlich hätte sie schon 2020 stattfinden sollen.
Dass dem Luxemburger Schriftsteller derzeit Preise wie Fallobst vor die Füße zu kullern scheinen, ist weniger ein Indiz dafür, dass sich jene Autoren, denen Erfolg beschieden ist, Kinder des Glücks nennen dürfen, als ein Beweis dafür, dass sich die Früchte im späteren Verlauf einer mit Verve verfolgten Schriftstellerkarriere oft summieren – wenn der Autor es denn schafft, sich auf dem Literaturmarkt im In- und Ausland zu etablieren.
Das, was gerade für Luxemburger Literaten sowohl ein Desiderat als auch eine manchmal nicht zu bewältigende Herausforderung darstellt, hat Guy Helminger mit Bravour geschafft: Er hat sich auf dem riesigen deutschsprachigen Literaturmarkt einen Platz erkämpft, hat gar bei Suhrkamp veröffentlicht und wurde mit anderen Hochkarätern wie dem 3sat-Preis in Klagenfurt, dem Jugendtheaterpreis des Landes Baden-Württemberg (2002) und dem Dresdner Lyrikpreis (2016) gewürdigt. Seit 1985 lebt Helminger in Köln und ist dort als freier Autor tätig, seine literarische wie geografische Wahlheimat hat der seit seiner Jugend mit der Punkbewegung eng verbandelte Freigeist somit in Deutschland gefunden.
Von Tragik und Zerrüttung
Doch was braucht es eigentlich für einen solchen Erfolg? Was muss man mitbringen, um Texte zu produzieren, die diesseits wie jenseits der Landesgrenzen gerne gelesen werden? Wenn man den 59-Jährigen fragt, erhält man als Antwort: „Eine Sensibilität für die Sprache, aber auch eine Sensibilität für die kleinen Dinge, die passieren, während man miteinander redet.“ (Tageblatt Nr. 248/2021) Helminger spricht hier zwei Aspekte an, die für sein Schreiben und sein Selbstverständnis als Kunstschaffender zentral sind. Zunächst das psychologische Moment, das der Autor, mit einer geschärften Beobachtungsgabe und einem ausgereiften Verständnis für das geistig-emotionale Federwerk des Menschen ausgestattet, in seine Erzählungen einzustricken weiß.
Am Rande des eben zitierten Interviews, das sich vergangenes Jahr spontan nach einer öffentlichen Diskussionsrunde auf der Frankfurter Buchmesse ergab, erzählte Helminger, dass Frauen oftmals ganz automatisch auf die Uhr schauen würden, wenn er zu ihnen in den Fahrstuhl steigen würde. Er deute dies als eine Geste der Unsicherheit und Abwehr gegenüber einem unbekannten, großgewachsenen Mann, der viel Raum für sich beanspruche und deswegen womöglich latent bedrohlich erscheine. „Ich persönlich bin ja wahnsinnig interessiert an den Dingen, die Leute vermitteln, ohne dass sie sie verbalisieren würden“, bemerkte Helminger damals.
Was treibt den Menschen an? Welche dunklen Impulse schlummern in ihm? Und wie drücken sie sich über seine Sprache hinaus in Gebärden und Handlungen aus? Wo treffen Wirklichkeit und Wahn aufeinander? Und wie löchrig ist schließlich der Überwurf der Zivilisation, der die wölfische Fratze, die Menschen einander zeigen können, notdürftig verdeckt? Diesen Fragen nähert sich der Luxemburger Schriftsteller in seinen Werken wieder und wieder an. Zu seinem Gattungsrepertoire gehören neben der Lyrik auch das Drama, das Hörspiel, das Drehbuch und der Roman. In seinen Theaterstücken bildet er dysfunktionale Familiengebilde und Beziehungen ab, spricht vom Versagen zwischenmenschlicher Kommunikation und – z.B. in den Stücken Venezuela, Das Leben hält bis zuletzt Überraschungen bereit und Drüben (2015 im Sammelband erschienen) – dem Scheitern seiner Protagonisten an der Realität.
Dass sich Helminger in seinen Geschichten sozialkritisch an die großen Fragen unserer Zeit herantraut und dabei auch feministische Belange nicht außer Acht lässt (Madame Köpenick, 2022), hat auch sicherlich mit seinem Weltoffenheit fördernden Globetrottertum zu tun. Neben dem Schicksal randständiger Figuren beschreibt der Autor immer wieder Migrations- und Fremdheitserfahrungen (Neubrasilien, 2010), seine eigene Erlebnisse im Ausland hält er gerne schriftlich fest (Allee der Zähne, 2018, und Die Lehmbauten des Lichts, 2019). Berufsreisen führten ihn u.a. schon nach Hyderabad (Indien), Teheran, Johannesburg oder auch Dubai. Über seinen dortigen Aufenthalt schreibt er in einem Gedicht: „Was erwartete ich? Gebetshäuser? / Wüste? Eine Rolltreppe aus den / Vorurteilen? Tatsächlich lernte ich / im Rahmen meiner Atmung Landschaften / zu sehen die waren geröstet wie / Raucherlungen“.
„Mein Gott! Ich bin Lyriker!“
Apropos Gedicht: Wenn Helminger von der „Sensibilität für die Sprache“ spricht, dann meint er das vom Dichter annähernd bis zur Perfektion kultivierte Gespür für das Schöne und Erstaunliche, das Worte hergeben, wenn sie zu mehr als nur zur rein objektivistischen Gegenstandsbeschreibung gebraucht werden. Daraus leitet er sein Selbstbild als Schreibender ab. Während seiner Laudatio im Jahr 2002, als er für seinen Erzählband Rost erstmals mit dem Servais-Preis prämiert wurde, verlautbarte der Autor selbstbewusst: „Ist es anmaßend von mir, wenn ich, nachdem ich für ein Hörspiel ausgezeichnet wurde, dann für ein Theaterstück und jetzt für Prosa den Servais-Preis bekomme, wenn ich also dennoch ausrufe: ,Mein Gott! Ich bin Lyriker!‘“
Als Gattung liefert die Lyrik den kreativen Kern, den Helmingers Schreiben, sich durch seine gestaltwandlerische Fluidität in Stil, Form und inhaltliche Schwerpunktsetzung auszeichnend, schalenartig ummantelt. Selbst wenn er in einer Erzählung Gewaltausbrüche oder intensive Angsterfahrungen schildert, nistet die Prosa in der Dichtung: „Wir alle wissen, dass Literatur nicht aus den Gegenständen, sondern aus der Sprache über die Gegenstände besteht. An dem Ort aber, wo Sprache auf einen Gegenstand geht, ohne primär eine reine Oberflächen-Information über diesen Gegenstand verbreiten zu wollen, wird sie lyrisch“, führte der Autor während seiner Rede aus. Wenig verwunderlich ist es also, dass er sich mit Gedichten zum ersten Mal in die literarische Öffentlichkeit hinauswagte: 1986 erschien mit der Anthologie Die Gegenwartsspringer das Debüt des Luxemburger Poeten, es folgten Bände wie Leib, eigener Leib (2000), Libellenterz (2010) oder auch Nördlich der Ferne (2017).
Welche Wege der jüngere der beiden Helminger-Brüder, die beide eine Vorliebe für Lyrik besitzen, mit seinem Schaffen noch beschreiten wird, lässt sich vor diesem Hintergrund jedoch kaum erahnen. Man kann aber davon ausgehen, dass es, was das Was und das Wie angeht, wohl ein Tosen der Vielfalt sein wird – ganz unabhängig davon, in welche Gattungssparte das Geschriebene fällt.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können