* Zur Autorin
Oleksandra Matviichuk ist Vorstandsvorsitzende des Zentrums für bürgerliche Freiheiten in Kiew.
Wie die erschütternden Bilder aus Mariupol – darunter eine zerbombte Entbindungsstation und die Trümmer eines Theaters, das bombardiert wurde, während sich mehr als tausend Menschen darin befanden – deutlich zeigen, führt der russische Präsident Wladimir Putin seinen Krieg gegen die Ukraine ohne Rücksicht auf die Menschenrechte. Er greift ungestraft Zivilisten an, um Panik zu schüren und uns zur Kapitulation zu zwingen. Doch er hat den Kampfgeist des ukrainischen Volkes völlig unterschätzt. Sowohl die Bürgerinnen und Bürger als auch die Soldaten wehren sich stärker, als der Kreml es sich je hätte vorstellen können.
Die internationale Gemeinschaft hat sich, vereint in ihrem Entsetzen, auf außergewöhnliche Weise zusammengetan. Länder haben uns Waffen, humanitäre Hilfsgüter und medizinische Hilfe geschickt. Sie haben Sanktionen gegen russische Finanzinstitute verhängt, Technologieexporte unterbunden und das Land aus internationalen Organisationen ausgeschlossen.
Aber all das ist immer noch nicht genug. Russische Raketen regnen weiterhin auf unsere Wohnhäuser, Büros, Krankenhäuser und Schulen herab, und Kolonnen von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen bewegen sich unaufhaltsam auf unsere behelfsmäßigen Barrikaden zu. Wir halten gerade noch stand.
Alle Länder haben die Pflicht, sich dem aggressiven Imperialismus Russlands entgegenzustellen. Die Vereinten Nationen wurden auf der Grundlage der Gleichheit und Selbstbestimmung ihrer Mitglieder, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Verpflichtung zur friedlichen Lösung von Konflikten gegründet. Heute tritt Russland all diese Grundsätze mit Füßen, und obwohl die überwiegende Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten Russlands Krieg verurteilt, versäumen es zu viele von ihnen, klar und deutlich ihre Stimme zu erheben.
In einer bahnbrechenden Sitzung der UN-Generalversammlung am 2. März stimmten 141 von 193 Mitgliedern dafür, den Angriff Russlands zu verurteilen und den sofortigen Abzug seiner Truppen aus der Ukraine zu fordern. Die vier Länder, die sich auf die Seite Russlands stellten – Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien – gehören zu den schlimmsten Diktaturen der Welt. Von den 35 Ländern, die sich der Stimme enthielten, darunter auch China, hätten wir in unserer Stunde der Not mehr erwartet. Besonders schmerzlich waren die Enthaltungen Indiens und Südafrikas, anderer Demokratien, die sich an die Grausamkeiten der imperialen Herrschaft erinnern.
Alles, wofür die Vereinten Nationen stehen, steht in der Ukraine auf dem Spiel. Wenn zugelassen wird, dass Putin Erfolg hat, wird eine neue Welt entstehen, in der größere Staaten erneut ungestraft in ihre Nachbarländer einfallen können. Eine kurze Periode in der Geschichte der Menschheit, in der der souveräne Wille des Volkes als Grundlage für die Regierung diente, wird zu Ende gehen. Neoimperiale revisionistische Mächte werden „Einflusssphären“ schaffen, indem sie wirtschaftlichen Druck, politische Vereinnahmung, Desinformation und militärischen Zwang einsetzen, um kleinere Nachbarn zu Vasallen zu machen. Eine Welt, die offener, stärker miteinander verbunden und sicherer ist, wird einer Welt weichen, die geschlossener, fragmentierter und gewalttätiger ist.
Die langfristigen Kosten, die es hätte, in einer solchen Welt zurechtzukommen, würden die kurzfristigen Kosten der sofortigen Bereitstellung der dringend notwendigen Unterstützung für die Ukraine bei weitem übersteigen. Abgesehen davon, dass die Militärausgaben erheblich erhöht werden müssten, würde das Entstehen isolierter Handelsblöcke eine Zukunft mit hohen Energie- und Lebensmittelpreisen nahezu garantieren. Und eine Flut von Desinformationen, die darauf abzielt, unsere offenen Gesellschaften und freien Medien auszunutzen, würde den sozialen Zusammenhalt und das Vertrauen in die Institutionen untergraben. Wir können einige dieser Kosten nicht vermeiden, aber wenn wir alle uns zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen, um Putin jetzt abzuschrecken, können wir die schlimmsten Folgen abmildern.
Russlands imperiale Anmaßungen
Nicht nur der Westen sollte beunruhigt sein. Auch die arabische Welt ist von Putins militärischer Aggression erschüttert worden. Seine Bereitschaft, Syriens Städte dem Erdboden gleichzumachen, um Präsident Baschar al-Assad an der Macht zu halten, hat den gesamten Nahen Osten destabilisiert, eine Welle von Millionen von Flüchtlingen ausgelöst und ein neues Wettrüsten zwischen den sunnitischen arabischen Staaten und dem Iran ausgelöst. Außerdem leben viele der mehr als 400 Millionen Menschen, die sich weltweit von ukrainischem Weizen ernähren, im Nahen Osten. Der Libanon, der bereits am Rande des Chaos steht, bezieht 80% seines Weizens aus der Ukraine. Die Tatsache, dass die ukrainischen Landwirte nicht in der Lage sein werden, die diesjährige Ernte zu exportieren oder die Ernte des nächsten Jahres anzubauen, wird den Brotpreis im Nahen Osten in die Höhe schnellen lassen.
Auch Afrika muss dies zur Kenntnis nehmen. Russlands imperiale Anmaßungen gegenüber dem Kontinent haben dazu geführt, dass es Korruption und private militärische Erfüllungsgehilfen wie die Wagner-Gruppe nutzt und sogar Journalisten ermorden lässt, um kleptokratische, autoritäre Regime in der Zentralafrikanischen Republik, Mali, Sudan und Teilen Libyens zu stützen. 77% der afrikanischen Bevölkerung sind junge Menschen. Ihr Streben nach einem afrikanischen Jahrhundert wird scheitern, wenn zugelassen wird, dass Russland militärische Macht einsetzt, um Regime zu schaffen und zu unterstützen, die allein seinen eigenen Zielen dienen.
Noch besteht die Chance, dass diejenigen, die bisher keine Partei ergriffen haben, ihre stillschweigende Unterstützung für Russland zurückziehen und sich der weltweiten Verurteilung Putins anschließen. Aber diplomatische Unterstützung ist nicht genug. Wir brauchen dringend mehr Hilfe. Mehr als einhundert führende ukrainische Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft, darunter auch ich, haben gemeinsam die Kiewer Erklärung veröffentlicht. Das Dokument, das von ehemaligen Staats- und Regierungschefs unterstützt wird, enthält sechs Forderungen an die internationale Gemeinschaft, darunter die Einrichtung von Schutzzonen für die Zivilbevölkerung in der Ukraine, die Bereitstellung von militärischer Soforthilfe wie Panzerabwehrwaffen und Luftabwehrsystemen sowie die Verhängung strengerer und umfassenderer Sanktionen gegen Russland. Alle russischen Banken müssen aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem Swift ausgeschlossen werden, um zu verhindern, dass sanktionierte Einrichtungen nicht sanktionierte Banken nutzen, um die Beschränkungen zu umgehen.
Wenn die Welt zulässt, dass Putins Angriffskrieg erfolgreich ist, werden die Folgen weit über die Ukraine hinausgehen. Jedes Land muss Gesicht zeigen, bevor es zu spät ist.
Aus dem Englischen von Sandra Pontow / © Project Syndicate, 2022.
Absolut guter Artikel.