Der Schauspieler Jakob Thurner steht kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag, vor dem es ihm graut. Ein Verlag möchte zu diesem Anlass eine Biografie über ihn veröffentlichen, aber Elmar Pflegerl, der Journalist, der Jakob zu diesem Zweck interviewt, interpretiert die Fakten anders als der Erzähler. War es wirklich das Beste für Tochter Luzie, dass sie nach der Scheidung der Eltern nach London aufs Internat kam oder hat man sie abgeschoben? Waren die Frauenmörder, die Jakob in Filmen spielte, nur Rollen, oder steckt etwas von diesem Irrsinn in ihm selbst. Schließlich wird er „der zweite Jakob“ genannt nach seinem Onkel Jakob, der mit der Welt nicht klarkommt und sich oft wochenlang in Kellern versteckt. Auch der Ich-Erzähler versteckt einiges. Zwar überrennt er offensiv seine Mitmenschen, durchschaut scheinbar alle und verurteilt sie, zugleich ist seine Verlorenheit aber kaum zu überlesen. Norbert Gstrein lässt seinen Protagonisten von früheren Geschehnissen berichten, was sich dabei aber anhäuft, ist all das Nicht-Ausgesprochene, das Verschweigen, das die Identität Jakobs geradezu pulverisiert. So klar die Sprache dieses Romans auch ist, so undurchdringlich zeigt sich die Hauptfigur. Vor allem, wenn es um ihre Beziehungen zu Frauen geht. Während Jakob an der mexikanischen Grenze einen Film dreht, hört er angeblich nur am Rande von all den Frauenmorden in Juárez, fährt aber eines Abends dorthin in einen zwielichtigen Schuppen und bezahlt eine junge Frau, damit sie mit ihm ins Auto steigt. Während des Oralverkehrs hat er seine Hände in ihrem Haar und sie erstarrt. Mehr beschreibt Jakob nicht, aber die Frau beschäftigt ihn fortan. Was hat er da getan? Tage danach ist er als Beifahrer in einen Unfall in der Wüste verwickelt. Eine Frau stirbt dabei und Jakob schleift sie hinter einen Busch, um den Unfall zu vertuschen. Später erwähnt er in einem Nebensatz, dass er womöglich auch den BH und den Slip der Toten berührt hat. Was hat er da getan? Und kam Tochter Luzie immer freiwillig zu ihm ins Bett?
Es sind brutale Abgründe, von denen geschwiegen wird. Stilistisch zielen Gstreins Sätze glasklar auf einen Punkt, sind die Aussagen deutlich und bestimmt, inhaltlich aber verschwimmt einem die Welt Jakobs zu einem Strudel aus Vermutungen und Ahnungen. Sind es also wirklich Abgründe oder drehen wir als Leserinnen und Leser nur unseren eigenen Film über Jakob? Womöglich unterstellen wir ihm Dinge, mit denen er nichts zu tun hat. Ist alles nur Zufall, und wir machen im Nachhinein daraus eine Notwendigkeit? Norbert Gstrein hat mit „Der zweite Jakob“ ein atemraubendes Buch geschrieben, das man so schnell nicht vergisst.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können