Am gleichen Samstag verstarb mit Jacques Poos jemand, der die Regierung Werner – vergeblich – vorgewarnt hatte. Jacques F. Poos, Finanzminister der Regierung Thorn und als Fraktionsvorsitzender der LSAP Oppositionsführer, hatte Wochen vor der belgischen Nacht-und-Nebel-Aktion einen Brief an Werner gerichtet, in dem er vor einer immer wahrscheinlicher werdenden Abwertung der gemeinsamen Währung warnte. Poos, der seinen Brief nicht veröffentlichte, bot Premier Werner die Mitarbeit der Sozialisten an, um einer Abwertung vorzubeugen und gemeinsam nach Mitteln und Wegen zu suchen, die drohende Verarmung aller Luxemburger abzuwenden.
Doch die Regierung würdigte Jacques Poos keiner Antwort. In ihrer Selbstherrlichkeit wurden Werner und Co. von ihren belgischen „Freunden“ kalt erwischt. Die Kaufkraft und die Vermögenswerte aller Luxemburger wurden um 8,5 Prozent entwertet. Zusätzlich ergriff die Regierung Werner Sparmaßnahmen, erhöhte Steuern und Taxen. Kurz, die einheimische Bevölkerung wurde doppelt bestraft.
Die Kurzsichtigkeit der CSV-DP-Regierung vor der Abwertung des gemeinsamen Franken sowie deren improvisierte Austeritätspolitik sorgten dafür, dass die Sozialisten 1984 unter Führung von Jacques Poos einen historischen Wahlsieg erzielten.
Während drei Legislaturperioden blieb Jacques Poos der unangefochtene Leader der Sozialisten. Als Vize-Premier und vor allem Außenminister diente er während 15 Jahren dem Land und erwarb sich bleibende Verdienste für Europa.
Dieser bescheidene Artikel will nicht die reichhaltige politische Karriere des Verstorbenen aufzeichnen. Mir sei bloß eine kurze Danksagung erlaubt an einen väterlichen Freund, den ich während über 50 Jahren begleiten durfte, und dem ich sehr viel zu verdanken habe.
An einem Strang gezogen
Meine erste Begegnung mit Jacques Poos erfolgte in der ASSOSS. Jener linken Studentenorganisation, die nicht nur den damals erfolgreichsten Fastnachtsball des Landes organisierte, sondern ein Schmelztiegel für linke Intellektuelle war. Dank der reichhaltigen Ball-Einnahmen gab die ASSOSS eine kritische Zeitschrift heraus, die „Voix des Jeunes“.
Der ASSOSS-Vorstand beschloss eine Sondernummer der „Voix“ gegen den in den Augen der meisten Jugendlichen völlig sinnlosen obligatorischen Militärdienst. Es gab viele begeisterte Interessenten, aber nur wenige brachten bis zum Redaktionsschluss ihren Beitrag zu Papier. Unter den Lieferanten waren Jacques Poos und ich. Jacques, promoviert bei Professor Rieben in Lausanne, hatte eine fundierte wirtschaftliche Analyse über die ebenso kostspielige wie wirkungslose nationale Streitmacht verfasst. Als Soldat zweiter Klasse lieferte ich eine sauer-süße Satire über das Leben in den Kasernen.
Es sollte nicht unsere letzte journalistische Zusammenarbeit sein. Nach einem Gastspiel im Wirtschaftsministerium wurde Jacques Poos zum Direktor des Tageblatt berufen, das er völlig umkrempelte und modernisierte. Er rekrutierte mich als Journalist. Doch Jacques war nicht nur mein Direktor. Wir entwickelten freundschaftliche Beziehungen. So fuhren wir am 11. August 1966 zum Baden in das damalige Schwimmbad Cloche d’Or. Wo ich dank Jacques Poos meine spätere Gattin Annette zum ersten Mal traf.
Politisch zogen Poos und ich ebenfalls an einem Strang. Nach den verlorenen Wahlen von 1968 rumorte es gewaltig innerhalb der LSAP. Poos vertrat in den Augen mancher Parteioberen zu „linke“, zu „gewerkschafts-freundliche“ Thesen. Wir waren in den Augen der Bousser, Georges, Lulling und Co „Extremisten“. Robert Krieps, Raymond Kirsch, Marcel Schlechter und ich verkörperten in der Parteileitung die linke Opposition. Jacques Poos lieferte Munition im Tageblatt.
Spaltung der LSAP
Der parteiinterne Machtkampf endete mit der Spaltung der LSAP und dem Auszug der „Sozialdemokraten“ Ende 1970. Die nachfolgenden Jahre waren Zeiten des Wiederaufbaus. Die Wahlen von 1974 endeten mit einem starken Zugewinn der LSAP. Jacques Poos war zum ersten Mal Abgeordneter. Die Niederlage der CSV bewog Pierre Werner zum Verzicht. Nach der Bildung der rot-blauen Regierung unter Gaston Thorn berief Fraktionspräsident René van den Bulcke mich zum Sekretär der sozialistischen Parlamentsfraktion. Seit 1971 war ich Generalsekretär der LSAP, gleichzeitig Journalist im Tageblatt. Wo ich nunmehr demissionieren musste. Doch recht schnell wurde Jacques Poos erneut mein Chef, als er 1975 den Fraktionsvorsitz übernahm, ehe er 1976 Finanzminister wurde.
Bei dem historischen Sieg der LSAP von 1984 unter dem Spitzenkandidaten Jacques Poos wurde ich im Zentrum hinter Parteipräsident Robert Krieps und dem Gewerkschaftler René Hengel Drittgewählter. Jacques Poos, der gleichzeitig das Außenministerium, den Tresor und das Wirtschaftsministerium zu verwalten hatte, erkor mich zu seinem Staatssekretär im Außen- wie im Wirtschaftsministerium. Im Letzteren wirkte ebenfalls Johny Lahure als Staatssekretär.
Vertrauensvolle Zusammenarbeit
Es wurden 15 Jahre vertrauensvoller Zusammenarbeit in der CSV-LSAP-Regierung. Zuerst unter dem gütigen Jacques Santer, später unter dem forschen Jean-Claude Juncker. Die „Frères Jacques“ Santer und Poos harmonierten stark. Das Verhältnis von Poos zu Juncker war angespannter. Vielleicht einer der Beweggründe für den Entscheid von Jacques Poos, 1999 für das Europäische Parlament zu kandidieren.
Europa war ein Herzensanliegen von Jacques Poos. Er trägt viele Verdienste am Zustandekommen der Verträge von Amsterdam und Maastricht. Vor allem der „Acte Unique Européen“, welcher die rechtlichen Voraussetzungen für den Europäischen Binnenmarkt schuf, trägt seine Handschrift als Vorsitzender des Allgemeinen Rates im Jahre 1985. Ich hörte damals den Kommissionspräsidenten Jacques Delors zu einer Gruppe von Außenministern sagen: „Poos est gentil, et il connait bien ses dossiers!“
Eine schwere Operation am offenen Herzen, die erste von drei, verhinderte eine Unterzeichnung der Einheitsakte durch Jacques Poos. Was mir die Ehre einbrachte, diesen wichtigen Vertrag im Namen Luxemburgs zu signieren. Jacques Poos delegierte mich ebenfalls zur Verhandlung des späteren Schengen-Vertrages. Der die Freizügigkeit der europäischen Bürger und den Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen bewirkte. Als ich Jahre später meinen Freund Jacques fragte, ob er angesichts des Erfolges des Schengen-Prozesses nicht doch lieber selbst angetreten wäre, antwortete er mit schallendem Lachen: „Ja, das war mein größter Fehler“.
1999 trat ich die Nachfolge von Jacques Poos als nationaler Spitzenkandidat der LSAP an. Unter mir verlor die LSAP 4 Sitze, die Juncker-geführte CSV bloß 2. Alles Proteststimmen gegen die Reform der öffentlichen Pensionen. Juncker blieb Premier in einer Koalition mit der um 5 Sitze gestärkten DP. Die LSAP wechselte in die Opposition.
Talentförderer
Nach 15 Jahren Regierung wäre ich wahrscheinlich ein lausiger Oppositioneller geworden. Da ich neben meinem nationalen Mandat gleichzeitig direkt ins EP gewählt war, optierte ich für Letzteres. Wo ich mit Jacques Poos die LSAP-Delegation in der Sozialistischen EP-Fraktion stellte. Doch zum ersten Mal war ich als Delegationsleiter gewissermaßen der Chef. Jacques Poos kandidierte für einen der fünf Quästoren-Ämter im EP. Es gelang mir, den Vorstand unserer Fraktion zu überzeugen, dass Jacques Poos als ehemaliger Außenminister gut vernetzt war, um die Verhandlungen mit dem Rat über das Statut der europäischen Abgeordneten zu beeinflussen. Jacques Poos wurde gewählt. Er erwies sich als emsiger Quästor, sodass er nach zweieinhalb Jahren wiedergewählt wurde. Bis das Statut der Europäischen Abgeordneten jedoch vom Rat gebilligt wurde, sollten noch Jahre vergehen. Dieses Kunststück gelang 2005 Nicolas Schmit, Staatssekretär von Jean Asselborn. Nicolas Schmit war eines der vielen von Jacques Poos nach 1984 geförderten Talente.
Im EP wirkte Jacques Poos an manchen Gesetzgebungen mit. Vor allem wurde er Berichterstatter für den EU-Beitritt Zyperns. Was ihm einen Ehrendoktor-Hut der Universität von Athen einbrachte. Doch Dr. Dr. Jacques F. Poos blieb zeitlebens ein eher zurückhaltender Mensch. Der in Familie und mit guten Freunden aufging. Nach 2004 zog Jacques sich ins Privatleben zurück. Er machte den Bootsführerschein und schipperte mit seinem kleinen Schiff im Mittelmeer, wo er bei Cannes-Mandelieu mit seiner gastfreundlichen Gattin Monique viele Freunde empfing.
Der Tod von Jacques betrifft mich enorm. Er war mir Chef, gleichzeitig Freund, Förderer und Vertrauter. Während der Pandemie sahen wir uns kaum, telefonierten aber öfters. Meine ergriffene Anteilnahme geht an Monique, an die Kinder von Jacques, an seine geliebten Enkel.
Kein „Äddi“, denn wir werden uns nie wiedersehen. Doch wenn ich das nächste Mal im Mittelmeer schwimme, werde ich die immerwährende Präsenz von Jacques Poos fühlen. Seinem Wunsch entsprechend werden seine Aschen dem Meer anvertraut. Den Fluten, aus denen wir alle kommen.
* Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
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