Ist der Mensch von Natur aus ein rücksichtsloser Rüpel und Egoist – oder ist er von Grund auf gut? An diesen beiden Menschenbildern scheiden sich momentan die Geister. Neu ist die Debatte nicht. Mit der sanitären Krise aber treten die Unterschiede in der Gesellschaft deutlicher zutage als je zuvor. Die Abgründe offenbaren sich vor allem im Umgangston, den viele Menschen miteinander pflegen.
Selten zuvor wurden Journalisten so offen angefeindet. Die Bandbreite reicht von harscher Kritik über üble Beschimpfungen bis hin zu regelrechten Drohungen. Ein Beispiel unter vielen. In den Test- und Impfzentren werden Fachkräfte tätlich angegriffen, während Volksvertreter in ihrem privaten Domizil belästigt werden. Befürworter der Covid-Politik werden als „Schlafschafe“ verunglimpft, Impfgegner des versuchten Mordes bezichtigt.
Der Ton in der Gesellschaft wird immer rauer. Ob auf Facebook und Twitter oder von Angesicht zu Angesicht: Wer nicht zustimmt, wird gnadenlos erniedrigt. Von den Hasskommentaren in den sozialen Netzwerken über das respektlose Miteinander in der Öffentlichkeit bis hin zu den jüngsten Handgreiflichkeiten gegen Ärzte, Krankenpfleger oder Polizisten – inzwischen ist fast jeder Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens vom Verfall der Umgangsformen betroffen.
In ihrem Streben nach Freiheit und Freizügigkeit scheint sich die Gesellschaft der als spießig empfundenen Konventionen entledigen zu wollen, die ein respektvolles Miteinander fördern. Dem Nachwuchs wird bereits im Kindergarten eingebläut, dass jede Meinung zählt. Sag ruhig, was dir auf dem Herzen liegt! Egal, wie dieser Standpunkt zustande kam. Fakten? Tun nichts zur Sache. Respekt? Total überbewertet. Jeder ist Sprachrohr des eigenen Anliegens, es zählt nur noch der eigene Standpunkt. Frei nach dem Motto: „Freedom of speech is a license to be stupid.“ Das Recht auf Meinungsfreiheit ist ein Freifahrtschein für Ignoranz.
Von einer gehobenen Diskussionskultur haben sich insbesondere Nutzer der sozialen Netzwerke längst verabschiedet. Widerrede ist unerwünscht. Beschimpfungen und Beleidigungen sind die Regel, nicht die Ausnahme. Wer Paroli bietet, muss erniedrigt werden. Doch geht es beim Umgang miteinander um weit mehr als um ein gutes oder ungutes Gefühl. Es geht um die Art unseres Zusammenlebens, um Achtung und Respekt, um Hilfsbereitschaft und Empathie.
Kurz nach Ausbruch der Pandemie überwog vielerorts der gesellschaftliche Zusammenhalt. Solidarität und der aufopfernde Einsatz vieler Bürger wurden im Alltag beklatscht. Zwei Jahre später hat die sanitäre Krise mit all ihren Einschränkungen und Folgen deutliche Spuren bei den Menschen hinterlassen. Frust hat sich breitgemacht, Angst und Sorgen um die Gesundheit, die Psyche, den Job oder die Zukunft. Mit dem Ergebnis, dass wir inzwischen wieder mehr gegen- als miteinander leben. Das Mantra lautet „Mach dein Ding!“. Egal, ob jemand dabei auf der Strecke bleibt.
Donald Trump hat es vorgemacht: Egoismus und Ignoranz zahlen sich aus. Was sich nicht mehr lohnt, sind Anstand, Skrupel und Rücksichtnahme. Der Ex-Präsident der Vereinigten Staaten hat die Rücksichtslosigkeit zwar nicht erfunden, jedoch hat er die Herangehensweise salonfähig gemacht. Du bist nicht meiner Meinung? Fake News! Du willst mich kritisieren? Lügenpresse! Irgendwie findet sich immer ein Schriftstück, eine Studie oder eine Statistik, die den persönlichen Standpunkt untermauert. Schließlich steht es im Internet. Dann muss es doch stimmen …
@ HTK
Es ist offensichtlich, was gemeint ist, aber erst, wenn man den Artikel gelesen hat.
Denn als Schlagzeile klingt der Titel wie die Forderung, das Recht auf Meinungsfreiheit abzuschaffen, weil es Ignoranz fördert oder zumindest zulässt.
Aber Ignoranz existiert auch ohne Meinungsfreiheit.
@DanV
es ist ja wohl so gemeint,dass durch die Meinungsfreiheit die wir genießen dürfen,der Anstand und das soziale Benehmen nicht auf der Strecke bleiben dürfen. In dem Sinne kann nicht jeder Dummkopf meinen: " Ich habe meine Meinungsfreiheit und kann deshalb machen was ich will." Wer Drohungen ausspricht und provokativ auftritt hat seine Meinungsfreiheit bald verspielt. So sollte es wohl sein. Der Titel ergibt also Sinn wenn man ihn richtig interpretiert.
"Das Recht auf Meinungsfreiheit ist ein Freifahrtschein für Ignoranz"
Dieser Titel fühlt sich sowas von falsch an. Eine Korrelation wird zur Kausalität erklärt. Genau so könnte man sagen:
"Die Pandemie ist ein Freifahrtschein für Ignoranz" oder sogar
"Das Menschsein ist ein Freifahrtschein für Ignoranz"
Die logische Schlussfolgerung dieses Titels wäre: "in Staaten ohne Meinungsfreiheit gibt es keine Ignoranz". Ist das so? Es würde mich wundern ...
Richtig. Zumal wenn die Hauptinformationsquellen Facebook oder Twitter heißen. Da kann ein "Spaziergänger" schon einmal die Presse als Lügner hinstellen. Man sieht, die Informationsverbreitung mit Lichtgeschwindigkeit hat nicht nur Vorteile.