EXTRA Zur Person
* Zsuzsanna Szelényi ist ungarische Politikerin und Außenpolitik-Expertin. Sie begann ihre Karriere in der Fidesz, die sie von 1990 bis 1994 im Parlament vertrat. Außerdem ist sie Rednerin auf dem gegenwärtig stattfindenden ersten „Budapest Forum“ zum Aufbau nachhaltiger Demokratien.
Der von den regierungstreuen Medien übertragene Papstbesuch überstrahlte die Diskussion, welche für Ungarns Zukunft freilich weitaus größere Relevanz hatte. Nachdem die Fidesz-Partei 2018 zum dritten Mal in Folge mit weniger als der Hälfte der Stimmen die absolute Mehrheit im ungarischen Parlament errungen hatte, sahen die Oppositionsparteien endlich ein, dass sie ihre Strategie ändern mussten. Es galt, eine erfolgversprechende Strategie innerhalb der rigorosen Spielregeln zu finden, die ihnen Orbans Regierungspartei aufgezwungen hatte.
Als Orban mit seiner Partei 2010 einen erdrutschartigen Wahlsieg errang und die anderen Parteien zusammenschrumpften, erklärte sich Fidesz zu einer „zentralen Kraft“ zwischen der rechten Jobbik und den sozialistischen, grünen und liberalen Parteien. Die Gewinner-Partei änderte postwendend das ungarische Wahlgesetz, um sich bei künftigen Wahlen wieder die Siegerposition zu sichern.
Durch die Neuaufteilung der Wahlkreise und die Abschaffung des zweiten Wahlgangs schuf das Gesetz ein Mehrheitssystem nach dem Prinzip „der Gewinner bekommt alles“. Verschärft wurde die Unverhältnismäßigkeit mithilfe eines neuen Bausteins, bekannt als „Kompensation des Gewinners“, welcher der Partei eines Siegers in einem Wahlkreis mit nur einem Vertreter weitere Stimmenanteile überträgt. Zudem machte die Regierungspartei in Nachbarländern lebende Volkszugehörige Ungarns bei den Parlamentswahlen stimmberechtigt, wodurch die Fidesz-Wählerschaft aus dem Ausland aufgestockt wurde.
Alles unter Parteikontrolle
Die Änderungen führten zu einem extrem einseitigen Wahlsystem und zu einer Falle für die Oppositionsparteien. Obwohl Fidesz 2014 und 2018 weniger als 50 Prozent der Stimmen erhielt, erhielt sie mit mehr als zwei Dritteln der Mandate die verfassungsgebende Gewalt. Obwohl die kleine linke, grüne und liberale Opposition bei diesen Wahlen kooperierte, hielt die „zentrale Kraft“ an ihrer Macht fest, und die Opposition konnte den Status quo nicht ändern. Die allein aus der Fidesz bestehende Einparteiregierung begnügte sich nicht mit der Änderung des Wahlrechts, sondern übernahm in der Folge die Kontrolle über staatliche Institutionen, über die Medien und griff auch in die Wirtschaft ein, um ihre eigene Elite zu bevorteilen. Kurzum, Fidesz wurde praktisch unbesiegbar.
Die Wahlniederlage 2018 war ein Wendepunkt für die Opposition. Bei den Kommunalwahlen im Folgejahr bildete die Opposition eine breitere Koalition und eroberte mehrere Städte, darunter die Hauptstadt Budapest. Der entscheidende Faktor für diesen Erfolg war, dass die links-liberal-grüne Opposition ihre Koalition um die rechtsgerichtete Jobbik erweiterte. Jobbik hat ihren radikalen Flügel nach dem Einzug ins ungarische Parlament im Jahr 2010 gestutzt und verfolgt heute eine gemäßigte Linie. Durch die zehnjährige Regentschaft Orbans sind die Wähler der Opposition inzwischen so aufgebracht und frustriert, dass sie bereitwillig für jede Oppositionspartei stimmen würden, um Fidesz zu bezwingen.
Das hat die Politik in Ungarn denkbar vereinfacht: Fidesz oder Nicht-Fidesz. Da die Wählerbasis der Fidesz in etwa den Wählern der Oppositionsparteien entspricht – beide ziehen etwa 30 Prozent der aktiven Wähler an – besteht eine realistische Chance, im Jahr 2022 die Partei Orbans zu besiegen.
Um komplizierte und vergiftende Verhandlungsrunden zu vermeiden, haben die sechs Oppositionsparteien Vorwahlen im September/Oktober organisiert; die Wähler sollen den besten Kandidaten in jedem Wahlkreis bestimmen. Im ganzen Land veranstalten die Oppositionsparteien derzeit Diskussionsveranstaltungen – ein demokratisches Verfahren, das den Ungarn über ein Jahrzehnt lang vorenthalten wurde. Die erste Diskussionsrunde zwischen den Kandidaten für das Präsidentenamt war ein bedeutender Meilenstein in den monatelangen Vorwahlen.
Vorwahlen beeinflussen
Große Herausforderungen liegen vor uns. Die Opposition verfügt über eine solide Wählerbasis, die jedoch – wie auch jene der Fidesz – nicht für einen Wahlsieg ausreicht. Mehr noch: Aufgrund der Verzerrungen des Wahlsystems muss die Opposition etwa 54 Prozent der Stimmen erhalten, um die Wahl zu gewinnen. Das bedeutet, dass die Opposition Hunderttausende von Stimmen noch unentschlossener Wahlberechtigter bekommen muss.
Fidesz hat großes Interesse daran, in die Vorwahlen der Opposition einzugreifen, insbesondere in den 40 Wechselwähler-Bezirken, in denen sie gegenwärtig regiert. So kann die Partei ihre fanatischsten Aktivisten mobilisieren, das Programm der Opposition zu unterschreiben – die einzige Voraussetzung für die Eintragung in die Wählerliste – und dann das Ergebnis zu beeinflussen. Dies birgt ein großes Risiko. Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung könnten ein paar hundert Fidesz-Wähler das Ergebnis zugunsten der schwächeren Kandidaten beeinflussen. Die Regierungspartei verfügt über weitaus mehr Ressourcen und Informationsquellen zur Berechnung der Chancen der Kandidaten und zur Mobilisierung ihrer Wähler als die gesamte Opposition zusammengenommen.
Die Vorwahlen beginnen am 18. September und enden nach dem zweiten Wahlgang am 10. Oktober. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie die 106-köpfige Aufstellung der Opposition am Ende des Wahlverfahrens aussehen wird. Klar ist nur, dass die vereinte Opposition dann ihren dringlichen Kampf gegen Europas skrupellosesten autokratischen Parteichef aufnehmen wird. Sie kann es sich nicht leisten, noch einmal vier Jahre zu verlieren.
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