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EditorialDer Fall Kabuls ist eine Bankrotterklärung des transatlantischen Bündnisses

Editorial / Der Fall Kabuls ist eine Bankrotterklärung des transatlantischen Bündnisses
Über Kabul kreisten am Sonntag wieder die US-Hubschrauber. Dieses Mal aber zur Evakuierung der eigenen Staatsangehörigen. Foto: dpa/AP/Rahmat Gul

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Afghanistan ist de facto wieder in Händen der Taliban. Was mit dem Beginn des Abzugs der US- und NATO-Truppen im Mai seinen Lauf nahm und mit der Flucht des afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani und der Vereinbarung eines „friedlichen Machtwechsels“ am Sonntag ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht hat, ist nichts weniger als eine traurige Bankrotterklärung des transatlantischen Bündnisses und eine Demütigung für die westliche Auslandspolitik.

In einem rasanten Feldzug haben die Taliban innerhalb einer guten Woche ganz Afghanistan quasi komplett erobert. Kampflos sind die Provinzhauptstädte eine nach der anderen an die Aufständischen gefallen. Und das obschon die Regierung den Taliban zumindest in puncto Truppenstärke, Ausbildung und Ausrüstung in allen Belangen überlegen sein müsste. Mit dem Abzug der ausländischen Truppen aber kam auch das Rückgrat jener Führungspersonen abhanden, die sich eigentlich dem Schutz der Bürger verschrieben hatten.

Inzwischen kreisen über Kabul wieder die US-Hubschrauber, während die Gotteskrieger in den Außenbezirken bereits die Messer wetzen. Es sind Bilder, die man seit der Eroberung der Stadt durch die US-Streitkräfte im Winter 2001 nie mehr zu sehen hoffte. Mit dem Unterschied, dass die USA und ihre Verbündeten dieses Mal nicht einziehen, sondern vollständig abhauen.

Dabei scheinen die westlichen Kräfte noch nicht einmal mehr in der Lage zu sein, die eigenen Zivilisten rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Von den afghanischen Mitarbeitern ausländischer Truppen und Unternehmen ganz zu schweigen. Botschaftsangehörige, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Einheimische, die über Jahre hinweg die westlichen Soldaten unterstützt haben, wurden mit ihren Familien quasi schutzlos zurückgelassen.

Nur zaghaft haben die verbündeten Staaten in den letzten Tagen angefangen, Betroffene und ihre Familien auszufliegen – Wochen, nachdem das Militär weite Teile des Landes verlassen und so den Weg freigemacht hat für den Siegeszug der Taliban. Gleichzeitig aber haben sogenannte Experten im Weißen Haus großspurig verlauten lassen, dass das moderne Kabul mit seinen von ausländischen Kräften ausgebildeten Sicherheitskräften so schnell nicht fallen werde.

Inzwischen herrscht Panik in der Hauptstadt, nicht zuletzt weil noch am Sonntagnachmittag die ersten Militärangehörigen nach der Flucht ihres Präsidenten damit anfingen, aus Angst vor Vergeltung zu den Aufständischen überzulaufen. Wie viel die Beteuerungen der Taliban wert sind, Kabul nicht betreten und auf Rache an der Bevölkerung verzichten zu wollen, wird sich noch in den nächsten Stunden zeigen.

Eines steht aber jetzt schon fest: Auch wenn es 20 Jahre gedauert hat, bleibt Afghanistan weiterhin uneinnehmbar. Zum dritten Mal schon erweist sich das Land als Friedhof der Großmächte. Nach den Briten und Sowjets sind es jetzt die Amerikaner und ihre Alliierten, die sich am Hindukusch die Zähne ausbeißen. Nie aber war der Einsatz so hoch. Für die internationale Staatengemeinschaft, aber vor allem für Teile der Bevölkerung, die sich in den letzten Jahren gewisser Freiheiten erfreuen durften, die für andere Menschen längst Alltag sind.

Frauenrechte, Bildung, Bücher – in der Steinzeit der „Gotteskrieger“ haben diese Errungenschaften keine Daseinsberechtigung. Dieses Mal aber reicht es nicht, den „verklärten“ Aufständischen die Schuld in die Schuhe zu schieben. 20 Jahre hatten die alliierten Staaten, um die Korruption der angeblichen Verbündeten und die mit westlichen Dollars gefütterten Warlords in den Griff zu bekommen.

Gewonnen aber wurde in den letzten zwei Jahrzehnten nichts. All die Soldaten und Zivilisten, die zunächst im Namen des „War on Terror“ und später im Namen der internationalen Sicherheit und des Friedens ihr Leben lassen mussten, die Summen im dreistelligen Milliardenbereich, die vollkommen verantwortungslose Hilfspolitik des Westens – alles umsonst.

Übrig bleibt, wie so oft, die Hoffnung. Dass die Regierung sich doch noch mit den Taliban friedlich einigen kann. Dass die Taliban Wort halten und Kabul nicht in Rache niederbrennen. Dass Afghanistan nicht wieder zur Brutstätte für Terrorismus wird. Daran haben nicht nur die USA und ihre westlichen Verbündeten ein Interesse, sondern auch die übrig gebliebenen Großmächte im Osten.

Armand
18. August 2021 - 23.47

@Wieder Mann

"Müssen wir jedem Land , jedem Volk unsere Werte , Kultur aufzwingen?"

Nein, wir haben unsere eigenen Taliban, die Kunstwerke aus vorauseilendem Gehorsam vor der Schlussprozession verhüllen.

Die Taliban gehen einen Schritt weiter und sprengen sie.

Tarchamps
18. August 2021 - 17.45

@grenzgegner

"In dem Zusammenhang von Kolonialherren zu reden, ist abgrundtief zynisch."

Kolonialherren haben die Grenzlinien auf einer Karte um mehrere Stammesgebiete herum gezeichnet und das Ganze Afghanistan genannt, genau wie Hindustan und Pakistan, die jetzt mit Atomraketen aufeinander zielen.

Das ist alles auf deren Mist gewachsen, Iran, Irak, Palästina übrigens auch.
Gottseidank sind wir die seit Brexit los.

grenzgegner
18. August 2021 - 11.43

@Wieder Mann: Man kann dem Westen Versagen, vielleicht Blindheit vorwerfen. Sicher waren auch Ziele, die ja nie offiziell formuliert wurden, unrealistisch: Man kann nicht aus Afghanistan über Nacht einen modernen Staat nach westlichem Muster machen - zumal der kulturelle Unterschied zwischen durchaus modernen Städten und ländlichen Regionen gigantisch ist.

Gleichwohl haben viele Menschen davon profitiert - Mädchen, Frauen, Künster usw.

Frauen konnten arbeiten und Universitäten besuchen, Mädchen erstmals Schulen besuchen.

In dem Zusammenhang von Kolonialherren zu reden, ist abgrundtief zynisch.
Da frage ich mich, ob Sie grundsätzlich Probleme mit den Demokratien der westlichen Welt haben.

Kolonialherren pflegten Länder zu besetzen, ihre Kultur und Sprache aufzudoktrinieren, Einheimische als Menschen zweiter Klasse zu behandeln, und sämtliche natürlichen Schätze des Landes bis zum letzten Krümel auszubeuten.

viviane
17. August 2021 - 13.46

@Wieder Mann

"Müssen wir jedem Land , jedem Volk unsere Werte , Kultur aufzwingen?"

Unsere Vorfahren haben ihre religiöse Überzeugung auch 2000 Jahre lang mit dem Schwert in die Welt exportiert.
Deshalb ist Entrüstung wirklich nicht angebracht.

schullerpiir
17. August 2021 - 7.27

Asselborn reist nach USA, bewaffnet mit einem schweizer Taschenmesser. Die U.S.Army flüchtet, Biden geht nach Kuba ins Exil und Asselborn hat genug Unterkunftsmöglichkeiten für afgahnische Flüchtlinge.

HATeFIELD
16. August 2021 - 22.54

@Alle Vorkommentatoren:
Die Luxemburger sind ja für ihre Großherzigkeit weithin bekannt und denken bei dieser Katastrophe natürlich nicht zuerst an Geld, an lästige Flüchtlinge und an ihren eigenen ( im Vergleich verschwindend geringen) Nachteil sondern sind mitfühlend und offen zu helfen, wo es geht anstatt, schlaue Weisheiten in die Welt zu posaunen.
So wie man sie eben kennt und ... sie wissen schon....

Mensch
16. August 2021 - 15.51

Die Westlichen Besatzer haben, wie in frühren Kriegsgebieten geschehen, darauf spekuliert, dass nach ihrem Abzug die Afghanen sich die Köpfe gegenseitig einschlagen werden. Das ist bisher nicht passiert. Hoffen wir, dass es so bleibt. Den afghanischen "Giëlemännercher", zumindest den Ranghohen, haben die neuen Machthaber sogar freies Geleit ins Ausland gewährt.

So sehen Sieger aus
16. August 2021 - 13.23

Die von der Nato ausgebildeten Truppen haben sich schnell den Taliban angeschlossen, mit denen von uns Steuerzahler finanzierten Waffen, die sie auch gelernt haben zu bedienen. Waren alle so blöd und haben nichts gemerkt, oder sind die so schlau? Sie sind jetzt gut ausgerüstet und ausgebildet für die Nachbarländer zu überfallen. Selbstverständlich nehmen wir die Flüchtlinge auf. Die werden sich hier anpassen.

Wieder Mann
16. August 2021 - 12.28

@Rosie/Observer: Müssen wir jedem Land , jedem Volk unsere Werte , Kultur aufzwingen?

Observer
16. August 2021 - 12.12

Blitz-Krieg Sieg mit Allahs Hilfe!? Der ungläubige Westen hat total versagt.....

Rosie
16. August 2021 - 10.59

"Frauenrechte, Bildung, Bücher – in der Steinzeit der „Gotteskrieger“ haben diese Errungenschaften keine Daseinsberechtigung."

Wieso haben wir denn nicht die Schweiz angegriffen, die haben auch erst Anfang der 90ern der letzten Frau das Wahlrecht zugestanden, das war knapp 10 Jahre vor Afghanistan.

Was ist mit den Wahlbezirks-Manipulationen die in den USA stattfinden um Minderheiten das Wahlrecht zu verweigern?

Das müssen alle Länder intern ausmachen.

Wieder Mann
16. August 2021 - 8.41

Es ist eine Bankrotterklärung der westlichen Demokratien im Style der ehemaligen Kolonialherren einem Land seine Werte, Kultur aufzuzwingen.

Realist
16. August 2021 - 7.22

Kann de Steierzueler mol eng Opstellung vun all de Steiergelder kréien, déi an de leschten 20 Joer do versenkt goufen?