Setsuko Thurlow, eine Hibakusha (Überlebende) dieses Gräuels, erinnert sich: „Als ich hinauskroch, standen die Ruinen in Flammen. Die meisten meiner Klassenkameraden in diesem Gebäude waren bei lebendigem Leib verbrannt. Ich sah um mich herum eine unvorstellbare Verwüstung. Prozessionen von geisterhaften Gestalten schlurften vorbei. Grotesk verwundete Menschen, sie waren blutend, verbrannt, geschwärzt und geschwollen. Teile ihrer Körper fehlten. Fleisch und Haut hingen von ihren Knochen. Bei einigen hingen die Augäpfel in den Händen. Bei einigen waren die Bäuche aufgeplatzt, die Eingeweide hingen heraus. Der üble Gestank von verbranntem Menschenfleisch erfüllte die Luft. So wurde meine geliebte Stadt mit einer Bombe ausgelöscht.“ Thurlow war zum Zeitpunkt des Abwurfs in Hiroshima 13 Jahre alt. Sie befand sich in ihrer Schule, etwa zwei Kilometer vom Epizentrum der Explosion entfernt. Sie überlebte durch ein pures Wunder.
Zehn Jahre nach Hiroshima und Nagasaki, als sich durch die massiven Atombombentests der USA und Russlands das Ausmaß der Bedrohung verdeutlichte, warnte eine Gruppe von elf bedeutenden Wissenschaftlern unter dem Impuls von Bertrand Russell und Albert Einstein die Regierungen und die weltweite Öffentlichkeit vor der nuklearen Bedrohung.
Die öffentliche Erklärung die als Russell-Einstein-Manifest bekannt wurde, bleibt von aktueller Bedeutung. „Wir appellieren als Menschen an Menschen: Erinnern Sie sich an Ihre Menschlichkeit und vergessen Sie den Rest“, so das Manifest.
Bis heute stellen laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI die weltweit noch 13.080 existierenden Atombomben der neun Atommächte eine reale Bedrohung für die Menschheit dar. Durch die laufenden Modernisierungsprogramme dieser Waffen und die steigende Zahl der direkt einsatzbereiten Atombomben wird diese Bedrohung noch greifbarer. Zudem erhöht die rasante Weiterentwicklung der Cyberkapazitäten durch mögliche Angriffe auf die Steuerungs- und Kontrollsysteme dieser Waffen die Gefahr eines Atomkrieges „aus Versehen“ wesentlich.
Die internationale Rotkreuz- und Halbmondbewegung ist in ihrer Einschätzung bei einem wie auch immer gearteten Atomkrieg glasklar: „Die nackte Wahrheit lautet, dass kein Staat und keine Organisation mit den katastrophalen Folgen einer Atomexplosion umgehen könnte.“
No-First-Use ein wichtiger Schritt
Bei ihrem rezenten Gipfeltreffen am 16. Juni in Genf verabschiedeten die Präsidenten Biden und Putin eine gemeinsame Erklärung zur strategischen Stabilität, in der sie „das Prinzip, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“, bekräftigten. Außerdem seien sie bereit gemeinsam einen integrierten bilateralen Dialog zur strategischen Stabilität aufzunehmen: „Durch diesen Dialog wollen wir (USA und Russland) die Grundlage für zukünftige Rüstungskontroll- und Risikominderungsmaßnahmen schaffen.“ Dieser bilaterale Dialog begann vor wenigen Tagen.
Die weltweite Aktion „NoFirstUse Global“ fordert aufgrund dieser Genf-Erklärung, beide Länder dazu auf, eine gemeinsame No-First-Use (NFU)-Verpflichtung einzugehen. Dies wäre eine Verpflichtung, dass ihre Nationen unter keinen Umständen Atomwaffen zuerst gegeneinander einsetzen, sei es als Präventivangriff oder Erstschlag oder als Reaktion auf einen nicht-nuklearen Angriff jeglicher Art. Die Verabschiedung einer solchen NFU-Politik müsste eines der Ziele des laufenden strategischen Stabilitätsdialogs sein. Ein solches Abkommen zwischen den USA und Russland, die über 90 Prozent aller Atombomben besitzen, wäre ein wichtiger Schritt für eine Risikominimierung eines nuklearen Krieges. Zudem würde Vertrauen aufgebaut. Diese Vereinbarung wäre eine Art Türöffner für weitere Abrüstungsschritte. Die Modernisierungsprogramme der Atomwaffen könnten gestoppt werden, die wahnsinnigen Investitionen in diese abscheulichen Waffen wären obsolet.
Nicht zuletzt wäre es ein Schritt zur Erfüllung des Ziels der Vereinten Nationen, Atomwaffen vollständig von unserem Planeten zu verbannen. Diese mörderischen Waffen sind wohl nur durch zähe Verhandlungen Schritt für Schritt abzubauen. Eine NFU-Verpflichtung zwischen den USA und Russland wäre ein erster wichtiger Schritt; andere Länder könnten folgen. Die Atommächte China im Jahre 1964 und Indien im Jahr 1998 haben sich einer NFU-Verpflichtung verschrieben. Russland und China haben im Juni dieses Jahres ihre gegenseitige Verpflichtung bekräftigt, weder Atomwaffen als Erstes gegeneinander einzusetzen noch die strategischen Atomraketen des jeweils anderen ins Visier zu nehmen.
Anlässlich der Jahrestagung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 2018 in Berlin wurde die parlamentarische Versammlung in einer Resolution äußerst deutlich: „(…) fordert die Kernwaffenstaaten des OSZE-Raums nachdrücklich auf, sich erneut zur Nichtverbreitung von Kernwaffen und Abrüstung zu verpflichten, unter anderem durch die Vereinbarung von No-First-Use-Prinzipien und Rüstungsreduktions-Strategien.“ Die 57 OSZE-Mitgliedstaaten aus Europa, Zentralasien und Nordamerika fordern von den Atomwaffenmächten USA, Russland, Frankreich und Großbritannien „No-First-Use“-Vereinbarungen.
Luxemburg sollte Flagge zeigen
Auch die NATO muss endlich ihr stures Nein zu solchen Vereinbarungen überdenken. Ihr Argument, ein vorbeugender Nuklearschlag sei für eine glaubwürdige Abschreckung von Bedeutung, ist ein Argument des Kalten Krieges. In diesen Jahren wurde immer mit einer überwältigten militärischen Überlegenheit gegenüber dem Warschauer Pakt argumentiert. Der Warschauer Pakt und die Sowjetunion sind Geschichte. Das Narrativ der konventionellen Überlegenheit ist schlichtweg nicht mehr zeitgemäß. Übrigens hatten die NATO-Staaten im Jahr 2020 ein Militärbudget, das ganze 16 Mal über den Ausgaben Russlands lag.
Luxemburg ist OSZE- und NATO-Mitglied. Wenn die Mitglieder der parlamentarischen Versammlung der OSZE ihre eigene Resolution ernst nehmen wollen, sollten sie aktiv werden oder innerhalb der OSZE erklären, dass Luxemburg die Berlin-Erklärung von 2018 nicht mehr in diesem Punkt unterstützt.
Warum nicht den Vorschlag Deutschlands beim NATO-Gipfel im Jahre 1999 immer wieder in die Diskussion bringen? Unser Nachbarstaat schlug vor, dass die NATO eine Politik der nuklearen Nicht-Erstanwendung verabschiedet. Der Vorschlag wurde damals abgelehnt. Die Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren wesentlich verändert. Eine erneute Diskussion wäre mehr als angebracht.
Das Hantieren mit Atomwaffen zur vermeintlichen Abschreckung und militärischen Verteidigung gehört der Vergangenheit an. Besonders innerhalb der Weltvölkergemeinschaft und in breiten Teilen der Zivilbevölkerung ist in Zeiten des Klimawandels, eines Biodiversitätsverlustes, dem Artensterben, enormer Migrationsbewegungen, horrender sozialer Ungleichheiten und einer weltweiten Pandemie vieles in Bewegung geraten. Die Weltgemeinschaft will keinen Krieg. Der Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen ist hierfür der beste Beweis.
Erinnern ist wichtig, Handeln ist angesagt
Während der diesjährigen Hiroshima- und Nagasaki-Gedenktage wäre es wichtig, das Versprechen zu erneuern, das viele Gemeinden und engagierte Bürger(innen) letztes Jahr im August eingingen: „Ich gedenke der Opfer des Beginns des Atomwaffenzeitalters in Hiroshima und Nagasaki, und ich ehre die Überlebenden, die den Untergang dieses Zeitalters anstreben, indem ich mich verpflichte, mich ihnen in ihrem Kampf für das Verbot und die Abschaffung von Atomwaffen anzuschließen“.
Dies wäre auch eine Wertschätzung der japanischen Schülerin und Hibakusha Sadako Sasaki. Zehn Jahre nach den Atombombenabwürfen wurde bei der Schülerin die Diagnose Leukämie festgestellt. Eine sehr häufige Erkrankung bei den Überlebenden der Bombenabwürfe. Eine japanische Legende besagt, dass die Götter jemandem, der 1.000 Origami-Kraniche faltet, einen Wunsch erfüllen würden. Der Kranich steht in Japan für Gesundheit und Frieden. Sadakos Wunsch nach Heilung wurde nicht erfüllt. Bis zu ihrem Tode faltete das Mädchen 664 Kraniche. Dank der Hilfe ihrer Mitschüler wurde sie mit über 1.000 Kranichen beerdigt. Die Geschichte der Schülerin wurde weltweit zu einem der bekanntesten Fälle der Atombombengeschädigten. Die Origami-Kraniche wurden zu einem weltweiten Symbol des Friedens und des Widerstandes gegen den Atomkrieg.
Im Friedenspark mitten in Hiroshima steht heute das bekannte „Kinder-Friedens-Denkmal“. Das Denkmal wurde von Sadakos Klassenkamerad(inn)en initiiert. Es trägt die Inschrift: „Dies ist unser Ruf; Dies ist unser Gebet; Frieden zu schaffen in dieser Welt.“
Auch 76 Jahre nach den Atombombenabwürfen mahnt der Origami-Kranich immer noch eindringlich und fordert konsequentes Handeln.
* Raymond Becker ist Mitglied des Koordinationsteams der „Friddens- a Solidaritéitsplattform Lëtzebuerg“
@Wieder Mann
Warum jetzt z.b Frankreich ohne Atombomben wieder in einen totalitären Staat zurückfällt müssen Sie mal genauer Erläutern…nach Ihrer „Argumentation“
So klar wie Sie die Notwendigkeit des Abwurfes der Bombe in Japan sehen ist es leider nicht…auch Jahre danach. Nach normativen und ethischen Gründen spricht alles gegen die Existenz. Vor allem die politische Entwicklung in der Welt.
@Goelff: „ Bekloppte“ von Nero über Hitler, Stalin ,…… durchziehen unsere Zeitgeschichte ohne Atomwaffen. Die Politik allerdings hat sich grundlegend verändert , wo Macht-,Partei-,Eigeninteressen im Vordergrund stehen als Allgemeinwohl ,Sicherheit, vorsorgliche Voraussicht der heimischen Bevölkerung.
....Wieder Mann;ich bin ganz ihrer Meinung,aber Angst machen mir trotzdem jene Bekloppten welche über die Bombe verfügen!
Hiroshima, Nagasaki waren eine Notwendigkeit den Krieg zu beenden und weitere amerikanische Todesopfer zu verhindern.Die atomare Abschreckung , der Einsatz der Nato Soldaten zur Zeiten des Kalten Krieges haben auch Ihre Freiheiten Herr Becker bewahrt. Mir ist ein Leben in Freiheit unter dem Schirm atomarer Waffen lieber, als ein Leben in einem totalitären System ohne Atomwaffen. Atomwaffen waren und sind Garant unserer Freiheit.