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ForumWettlauf um Schuldzuweisungen: Von anfänglicher Solidarität bis hin zu Hexenverbrennungen?

Forum / Wettlauf um Schuldzuweisungen: Von anfänglicher Solidarität bis hin zu Hexenverbrennungen?
Wir werden noch lange mit den Folgen der Pandemie leben müssen. Etwas Bescheidenheit wäre angebracht, gerade in der Politik. Foto: dpa/Federico Gambarini

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„Wenn aus Gegenwart Geschichte wird“ übertitelt der australische Historiker Christopher Clark das Einführungskapitel zu seinem neuen Buch „Gefangene der Zeit“. Er zeichnet dabei erstaunliche Parallelen zwischen früheren Seuchen und der Corona-Krise auf.

So habe man überall „tendenziell auf Methoden zurückgegriffen, die bereits mittelalterliche Städte anwandten: Quarantäne, ‚Lockdown‘, Abstand, Masken und die Schließung von öffentlichen Einrichtungen“. Weiter: „Die Gewohnheit, Seuchen eine moralische Bedeutung zuzuschreiben, ist ebenso alt wie die schriftliche Dokumentation ihrer Auswirkungen. Im Alten Testament wurden Seuchen häufig als etwas von Gott Gewolltes präsentiert.“ Dabei habe schon der hellenische Historiker Thukydides in seiner Schilderung der Pest-Epidemie im alten Athen festgestellt, „dass die Frommen und die weniger Frommen in gleicher Zahl an der Seuche starben“.

Dennoch sei der Verlauf jeder Epidemie „extrem ungleichmäßig (…), da von Strukturen sozialer Ungleichheit beeinflusst“. Arme können sich weniger helfen als Reiche. Als zu Anfang des 19. Jahrhunderts in New Orleans das Gelbfieber grassierte, verließen alle betuchten Bürger die Stadt. Die Zurückgebliebenen starben in Massen. Als die Pest 1585 die Stadt Bordeaux heimsuchte, flüchtete der Schriftsteller Michel de Montaigne aufs Land, obwohl er Bürgermeister war.

Heute sind Bürgermeister und Minister standhafter. Bloß dass einige Ex-Minister sich zum Impfen vordrängelten. Ein Lockdown oder ein Ausgehverbot sind einfacher zu überstehen in einem Haus mit Garten als in einer Mansarden-Wohnung. Als Frankreich den ersten Lockdown verfügte, verschwanden schnell 19% der Pariser aufs Land. Es waren nicht die Mansarden-Bewohner.

Im reicheren Teil der Welt ergriffen die Staaten engmaschige Hilfsmaßnahmen zugunsten der Pandemie-Geschädigten. Auch in Luxemburg leistete ein recht gut organisierter und vor allem kreditwürdiger Staat großzügige Hilfe für alle.

In der guten alten Zeit war das kaum der Fall. Reiche Städte wie Venedig oder Florenz verteilten zwar Lebensmittel an Hilfsbedürftige (inklusive täglich je einen Liter Wein, wie Christopher Clark berichtet). Doch meistens wurden die Seuchen von umso destruktiveren Hungersnöten begleitet. Wer sich ein Bild von den damaligen Auswirkungen von Pandemien machen will, soll „Le hussard sur le toit“ von Jean Giono nachlesen, eine brutale Schilderung der 1830 im Süden Frankreichs wütenden Cholera-Epidemie.

Für einen Zeitzeugen wie Don DeLillo ist eine Zivilisation „desto verletzlicher“, „ je fortschrittlicher“ sie ist. In seinem jüngsten Roman „Die Stille“ stellt er die unsere Gesellschaft umtreibende Kardinalfrage: „Wem geben wir die Schuld?“

Die ewige „Schuld-Frage“

Irgendjemand muss ja büßen. In Frankreich ist seit der Affäre um die Aids-verseuchten Blutkonserven das „Vorsorgeprinzip“ die einzige Messlatte. Damals wurde der Generaldirektor des Gesundheitswesens zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Seitdem übernimmt kein Minister, kein hoher Beamte mehr die Verantwortung für schnelles Handeln. Alle Entscheidungen werden unzähligen „Experten“-Gremien vorgelegt. Das ist die Stunde der Professoren, der Ethiker, der Menschenrechtler, die sich überbieten in gescheiten Stellungnahmen, selbstverständlich ohne Garantie und Verantwortung. Dennoch erlaubt die sich widersprechende Kakofonie der Mediziner, Psychiater, Psychologen und anderer Spezialisten, jede eventuelle „Schuld-Frage“ möglichst unlesbar zu machen. Die Angst vor Verantwortung erklärt den permanenten Hickhack um das AstraZeneca-Serum.

Während Leitartikler oberlehrerhaft allen Regierungen den Mangel einer klaren Linie und einer vorausschauenden Strategie vorwerfen, versuchen sich überall die Regierenden in politischer Schadensbegrenzung.

Als unsere Regierung vor einem Jahr die Notbremse zog und ganz Luxemburg zum „Lockdown“ verdonnerte, segneten alle 60 gleichermaßen verängstigten Abgeordnete diesen radikalen Schritt einmütig ab. Ich schrieb damals: „Nach dem hoffentlich nahen Ausklang der Pandemie kommt die Zeit der Abrechnungen. Die ewige Unzufriedenheit der Menschen wird voll durchschlagen bei der unumgänglichen Vergangenheitsbewältigung.“

Meine Hoffnung auf ein schnelles Ende der Pandemie war eine für die Menschen typische Illusion. Wie Albert Camus in „La Peste“ schrieb: „Le fléau n’est pas à la mesure de l’homme, on se dit que le fléau est irréel, c’est un mauvais rêve qui va passer. (…) Cent millions de cadavres semés à travers l’histoire ne sont qu’une fumée dans l’imagination.“ Was erklärt, weshalb so viele Corona-Leugner, Masken- oder Impf-Verweigerer ihr „Menschenrecht“ verteidigen, sich zu infizieren und andere anzustecken!

Die ursprüngliche Einmütigkeit der Politik hielt nicht lange. Sehr schnell nahm die Parteipolitik wieder überhand. Corona-Gesetze werden Mehrheit gegen Opposition verabschiedet. Ohne dass ersichtlich wird, weshalb CSV und Co. dagegenstimmen. Der nunmehr von anonymen Heckenschützen der CSV-Fraktion abgeschossene Präsident Frank Engel hatte schon seinen christlichen „Brüdern und Schwestern“ vorgeworfen, gegen Maßnahmen zu stimmen, die sie selbst einforderten.

Abgeordnete sind in ihrer Rolle, wenn sie der Regierung unbequeme Fragen stellen. Doch gefallen sich zu viele Ehrenwerte in einer Litanei von Fragen um der Fragen willen. Von März bis Oktober 2020 gab es zur Pandemie 862 parlamentarische Fragen, 152 „Urgences“ einbegriffen. Seit Beginn der neuen Legislaturperiode wurden bereits 433 zusätzliche Fragen gestellt, darunter 152 „dringliche“. Ohne dass mit den 1.300 parlamentarischen Fragen ein messbarer Beitrag zur Bekämpfung der Covid-Seuche zu erkennen ist.

Vergangenheitsbewältigung

Die „Zeit der Abrechnungen“ ist gekommen. Der politische Ton wird rauer. In Luxemburg und anderswo. Wenn in Seniorenheimen mehr ältere Menschen sterben, kann das ja nur die unmittelbare „Schuld“ der Familienministerin sein. In Bascharage ereifert sich der CSV-Bürgermeister, fordert eine „unabhängige Studie“, welche Corinne Cahen, gleichzeitig DP-Präsidentin, zum Rücktritt zwingen soll. In Kayl ist es die DP-Opposition, welche die „Schuldigen“ der dortigen Todesfälle zur Verantwortung ziehen will. Überall versucht die jeweilige Opposition, den verängstigten Bürgern zu suggerieren, sie hätte alles besser gemacht.

In der Schweiz entbrannte eine wütende Diskussion über den „Wert“ eines geretteten Lebens. Hätte es weniger Corona-Tote gegeben, falls der Bund „energischer“ durchgegriffen hätte? Wobei es vornehmlich die Kantone waren, die je nach Interessenlage beispielsweise den Skisport erlaubten oder verboten. In der Bundesrepublik fuhren die Länder eigene Strategien, erlaubten oder verboten beispielsweise das Golfspielen oder die Eisdielen. Kanzlerin Angela Merkel musste einen Gang nach Canossa antreten, weil sie Beschränkungen für die Osterfeiertage durchsetzen wollte, die weder den Kirchen noch der Geschäftswelt, noch den reisewütigen Bürgern gefielen.

Die Widersprüchlichkeit der Standpunkte nimmt surreale Dimensionen an, wenn es um das Impfen geht. Menschenrechtler verteidigen die Impfverweigerung als „Grundrecht“. Gleichzeitig schwillt tsunamihaft die Nachfrage nach schnellerem Impfen an. Ethiker kamen zu der „überraschenden“ Erkenntnis, dass zuerst die meist gefährdeten Mitmenschen, die Alten, die Kranken, das medizinische Personal zu impfen seien. Parallel dazu melden sich immer mehr Berufsgruppen als prioritär an. Von Totengräbern bis hin zu Gefängniswärtern wird ein vordringlicher Zugang zu Impfungen verlangt. Gewerkschaften aus dem Erziehungsbereich sehen ihre Mitglieder gefährdet. Die CGFP streitet für Polizisten und andere Staatsdiener.

Das Problem ist überall gleich. Schuld haben immer die anderen. Die Europäische Union, weil sie sich weniger schnell genügend Impfstoff sicherte als die USA, UK oder Israel. Hätte Brüssel nicht auf eine gemeinsame Einkaufsstrategie gedrängt, wären gerade die kleineren Mitgliedstaaten unter die Räder gekommen. Hätte die Kommission wie Israel oder die Briten der Forderung der Pharmaindustrie auf Zugang zu allen Patientendaten und auf die Entbindung ihrer Haftungspflicht zugestimmt, wäre sie der Verstöße gegen den Datenschutz und der Abdankung gegenüber „Big Pharma“ bezichtigt worden.

Viele Kritiker bemängeln den Mangel an Akutbetten als Beweis für eine falsche Gesundheitspolitik. Zu Beginn der Pandemie zaubert die Regierung Notspitäler herbei, die nachher nicht gebraucht wurden. Ohnehin würde die Multiplikation der Intensivstationen keine Regierung davon entbinden, die Infektionsketten zu stoppen versuchen. Könnte man die Spaßgesellschaft ungestört feiern lassen, weil Intensivbetten und das dazugehörende Personal unbegrenzt zur Verfügung ständen?

Zu Beginn der Pandemie gab es eine natürliche Solidarität. Nunmehr ist die Zeit der Schuldzuweisungen gekommen. Nach den mittelalterlichen Quarantänen drohen inquisitorische Scheiterhaufen für die „Schuldigen“. Doch weder Corinne Cahen und schon gar nicht die gestresste Paulette Lenert geben glaubwürdige Hexen ab.

Wie alle früheren Epidemien kam der Covid-Virus unangemeldet und bleibt immer noch ungenügend erforscht. Niemand weiß, ob die Impfstoffe wirklich greifen und wie lange sie vor Virusvarianten schützen. Dhiraj Sabharwal schrieb dieser Tage zu Recht, selbst Forscher könnten „nur vorläufige und revidierbare Ergebnisse“ liefern. Deshalb ist es hirnrissig, „Schlussfolgerungen aus dem aktuell verfügbaren und widersprüchlichen Wissensstand“ ziehen zu wollen. Wir werden noch lange mit den Folgen der Pandemie leben müssen. Etwas Bescheidenheit wäre angebracht, gerade in der Politik.

* Robert Goebbels ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter

Laird Glenmore
2. April 2021 - 19.40

Sehr geehrter Herr Göbbels

der von ihnen genannte Historiker Christopher Clark ist im Gegensatz zu unseren Politikern auch ein belesener, gebildeter und Intelligenter Mann.
Habe schon viele Sendungen mit ihm gesehen und vor allen dingen mag ich seine Art und er weiß wo von er spricht.
Das ist leider etwas was ich bei einigen Politikern hier im Land vermisse.
Frohe Ostern.