1976 waren zuerst der langjährige Ministerpräsident Zhou Enlai und kurz danach der große Steuermann Mao verstorben. In den nachfolgenden Jahren entbrannte hinter den Kulissen der allein seligmachenden KP Chinas ein Machtkampf über die zukünftige Ausrichtung des riesigen Landes. Damals noch unterhalb der Milliarde Einwohner.
Der „kleine Steuermann“, der vorher zweimal entmachtete Deng Xiaoping, setzte sich mit den „Vier Modernisierungen“ durch. Die wichtigste war die marktwirtschaftliche Stimulierung der darbenden chinesischen Wirtschaft und deren Öffnung zur Außenwelt.
In seinen Schlussfolgerungen zeigte sich Alain Jacob skeptisch über die Chancen von Dengs Reformpolitik: „Toute prospective, s’agissant de la Chine, est hasardeuse.“ (…) „Qui a jamais réussi à soulever un milliard d’hommes, dont les quatre cinquièmes appartiennent à un monde rural que les temps modernes ont a peine effleurés …?“ Die letzten Zeilen seines Buches enden damit, dass die Chinesen sich damals nicht mit „ni hao“, also „Guten Tag“ begrüßten, sondern mit „ni chi le ma“, was so viel heißt wie: „Haben Sie schon gegessen?“
Einige 30 Jahre später essen die Chinesen gut, gibt es keine Hungersnot mehr im Riesenreich. Obwohl die Bevölkerung um 400 Millionen Menschen zulegte. Die große Mehrheit der Chinesen ist im Mittelstand angekommen. Modernität ist selbst in die entlegensten Gegenden des Landes eingezogen.
Die Entfesselung eines Kulturvolkes
Die in den 80er Jahren eingeleiteten Reformen des Deng Xiaoping wurden anfangs im „Freien Westen“ belächelt. „Sozialistische“ Marktwirtschaft taugte in den Augen vieler bestenfalls dazu, mit „Raubkopien“ billigen Ramsch für die Konsumgesellschaft zu produzieren.
Eigentlich hätten die vorherigen wirtschaftlichen Erfolge von Singapur, Hongkong und Taiwan die großen westlichen Geister eines Besseren belehren sollen. Die Chinesen sind ein uraltes Kulturvolk, das Handel und Handwerk seit Jahrhunderten in seinem Genom trägt. Die Chinesen haben im wahrsten Sinne des Wortes „das Pulver“ erfunden. Dazu Seide, Porzellan, Papiergeld, den Kompass und vieles mehr, was die menschliche Zivilisation prägte.
Maos „kommunistische Revolution“ mit seinen blutigen Exzessen hatte die Kreativität und den Initiativgeist eines Volkes gefesselt, das mitnichten einem „Haufen Ameisen“ gleichkommt. Die Chinesen haben mehr Gemeinsinn und Familiensinn als die Amerikaner oder Europäer. Sind gleichzeitig Individualisten mit privaten Ambitionen.
Seit über 40 Jahren bereiste ich kleine Teile des Riesenlandes regelmäßig. Mein erster Kontakt mit China erfolgte 1978, wo ich im Gefolge von Robert Krieps und dem legendären Adolphe Franck während 14 Tagen in das maoistisch geprägte China eintauchte. Es war das Ende der Periode der Viererbande. Im Pekinger historischen Museum blieben ganze Abteilungen zur „Neuordnung“ geschlossen. Auf manchen Fotos waren einzelne Gesichter schwarz radiert. Jeder Chinese trug das obligate Mao-Kostüm mit grüner Mütze. Männlein und Weiblein waren kaum zu unterscheiden.
1989 reiste als ich als Staatssekretär nach Peking. Zur Unterzeichnung eines Staatskredits von 100 Millionen Franken des Großherzogtums an das damals recht arme China. Peking war nicht wiederzuerkennen. Mao-Kleidung gab es kaum noch. Die riesigen Fahrrad-Schwärme auf den Straßen waren zu einem Rinnsal geworden. Autos und Lastwagen dominierten das Stadtbild.
Unsere Gastgeber luden SNCI-Präsident Raymond Kirsch und mich zu einem Besuch in Shenzhen ein, der ersten von Deng gewollten Sonderwirtschaftszonen, mit denen das moderne China seinen rasanten Aufstieg nahm. Wir sahen in dem gegenüber von Hongkong liegenden Shenzhen einen Wald von Kranen und ein Meer von Baggern. Alles war im Fluss. Selbst unsere Koffer – die aus dem Auto des Bürgermeisters entwendet wurden, während wir mit ihm zu Mittag speisten.
2019 besuchte ich erneut Shenzhen. Inzwischen eine „Hightech“-Metropole. Auf einer Fläche, geringer als diejenige unseres Landes, leben an die 20 Millionen Menschen. Bis zu 600 Meter hohe Wolkenkratzer prägen das Stadtbild. Ohne dass das sehr grüne Land zu einer Betonwüste verkümmert wäre.
Eine wichtige Erfahrung war die Weltausstellung von 2010 in Schanghai. Als Luxemburger Generalkommissar reiste ich ab 2006 regelmäßig in die mit 25 Millionen Einwohnern größte Stadt Chinas. Bei jedem Besuch hatte sich das Stadtbild verändert. Neue Wolkenkratzer zierten Pudong, das Manhattan Schanghais. In vier Jahren wurden 140 Kilometer neue Autobahnen, drei neue U-Bahnlinien, drei Tunnels unter dem Pudong-Fluss hin zur Expo gebaut. Die Expo geriet zu einer urbanistischen Erneuerung ersten Ranges. Auf 5,28 Quadratkilometern, wo früher nur armselige Hütten standen, dazu veraltete Industrien und eine Schiffswerft mit 10.000 Beschäftigten, entstand die mit 192 Nationen universellste und mit 72 Millionen Besuchern erfolgreichste Weltausstellung aller Zeiten. Nach der Expo wuchs ein modernes Stadtviertel heran. Das Luxemburger Pavillon, das über 7 Millionen Besucher anzog, durfte als einer von bloß fünf Pavillons bleiben.
Über zwei Dutzend China-Reisen erlaubten mir so, die Transformation eines Landes zu erleben, wie die Weltgeschichte es in diesem Ausmaß noch nie kannte.
Unaufhaltbarer Aufstieg
Zu Maos Zeiten war China bitterarm. Das Land exportierte keine 500 Produkte. Selbst in den 80er Jahren, als dank Dengs Reformen ein bescheidener Wohlstand aufkam, mussten Konsumgüter wie Fernseher oder Eisschränke meistens importiert werden.
Heute steht China für über die Hälfte der Weltproduktion von Stahl, Aluminium, Kupfer, Zement. Ist führend bei vielen Konsumgütern, besonders im elektronischen Bereich. Ist größter Hersteller von Autos und Fahrrädern, aber auch von Windmühlen und Sonnenkollektoren.
China ist schon lange kein Billiglohnland mehr. Es bietet seinen 1,4 Milliarden Bürgern eine universelle Krankenversicherung, während in den USA trotz Obamacare noch immer Millionen Amerikaner ohne gesicherten Zugang zu Medizin sind.
Die chinesische Wirtschaft schafft rund 20 Prozent der globalen Wert-Schöpfung. Hat somit die EU überholt und wird in wenigen Jahren die USA ökonomisch hinter sich lassen. China ist heute schon der erste Handelspartner von 130 Staaten. Mit seiner Seidenstraßen-Initiative schafft China Zugverbindungen und vor allem maritime Links zu 137 Staaten. Selbst zu Grönland. Ein gemeinsamer Markt für über 5 Milliarden Menschen.
Erfolg bringt immer Neider. Die führende Militärmacht der Welt, die USA, sieht ihre ökonomische Vormachtstellung gefährdet.
Der neue Kardinalfeind
Obama versuchte mit dem Transpazifischen Handelsabkommen die Chinesen auszugrenzen. Trump kündigte die Mitgliedschaft der USA auf. Jetzt gelang es den Chinesen, ein breiteres Abkommen mit den zehn ASEAN-Staaten, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland abzuschließen, dem das brexitierte Großbritannien beitreten will.
Unter Präsident Biden werden die USA weiterhin versuchen, den Aufstieg der Chinesen zu torpedieren. Die Europäer werden angehalten, sich daran zu beteiligen.
Sicher, China ist zu einer Militärmacht herangewachsen. Mit einem Militärhaushalt von 216 Milliarden Dollar ist das Land die Nummer zwei nach den USA, die 740 Milliarden Dollar ausgeben. Mit den NATO-Partnern der USA steuert der „freie Westen“ fast 1.000 Milliarden Dollar zum „Ungleichgewicht des Schreckens“ bei. Über die Hälfte der globalen Rüstungsausgaben, viereinhalbmal mehr als China.
Sicher, China ist keine Demokratie westlichen Zuschnitts. Machthaber ist die chinesische KP unter der Führung von Präsident Xi, der seine ursprünglich auf zehn Jahre begrenzte Amtszeit verewigte.
Dennoch hat China weder eine Ideologie noch eine Staatsreligion zu exportieren. Wie alle großen Staaten verteidigt es seine Interessen, sucht Allianzen, will seine Positionen festigen. Vornehmlich im Handel. Auch bei neuen Technologien. Die Chinesen sind bereits in vielen Sektoren führend. Immerhin erhalten chinesische Betriebe und Wissenschaftler seit Jahren mehr internationale Patente zugesprochen als die USA und die EU gemeinsam.
Kurz: Die Volksrepublik ist ein nicht mehr zu umgehender Akteur der Weltwirtschaft. Gerade die Europäer hätten ein ureigenes Interesse, möglichst normale Beziehungen zu China und dem pazifischen Raum zu unterhalten.
Das 20. Jahrhundert drehte sich um den Atlantik. Das 21. Jahrhundert gehört dem Pazifik. Mit China in einer herausragenden Position. Indien wird demnächst China als bevölkerungsreichsten Staat ablösen. Doch die zahlenmäßig größte Demokratie der Welt ersäuft weiterhin in Armut und Kastendenken.
Es gibt Aspekte der chinesischen Politik, die diskutabel sind. Dennoch wäre es falsch für die Europäer, sich auf „selbstverliebte und moralinsaure“ Positionen zurückzuziehen. Unsere sogenannte „moralische Überlegenheit“ ist vielfach Selbstbetrug. Die Europäer täten besser daran, sich nicht am „China-Bashing“ der Amerikaner zu beteiligen. Als noch immer wichtiger Exporteur von Gütern und Dienstleistungen sollten die Europäer eine unverkrampfte Partnerschaft mit allen Wirtschaftsmächten suchen. Mit den USA, aber auch dem unumgänglichen China.
* Robert Goebbels ist ein ehemaliger Minister (LSAP) und Europaabgeordneter.
@J.Scholer
Genau so ist es. Und Luxemburg hat ja viel auf China gesetzt, mit den Banken, Cargolux, etc. Vorher war es Qatar. Das zeigt ja, was die Priorität ist, bei der Frage Menschenrechte vs Geld.
Aber schlimmer für Europa ist, dass man rezent in allen wichtigen Fragen total versagt hat: Schließen von Grenzen, Fiasko beim Kauf von Impfstoff, grundverschiede Teststrategien. Eine EU-Außenpolitik gab es nie wirklich. Die EU ist umd bleibt leider nur eine Freihandelszone, mehr nicht. Erschreckend ist nur, wieviel die EU Bürokratie uns kostet.
Was ist mit Menschenrechten, was ist mit Überwachung, was ist mit Ausbeutung anderer Länder, Kongo z.B.? Die machen nur das was die Europäer vor Jahrhunderten angefangen haben, Kolonialisierung. Habe vorgestern einen Bericht im Fernsehen verfolgt wo eine "Staatssicherheitsbedienstete" durch die ländliche Gegend zog und die vorgeschriebenen guten Taten der Familien registrierte und notierte. Ohne gute Taten, im Sinne der Partei, kein Zucker, kein Brot, keine Medizin. Von wegen Hitech, alles nur kopiert und dann natürlich verbessert. Die lieben Westler schauen interessiert zu und fragen, wie machen die das. Thema "Schwarzgeld" wird hier nicht behandelt!
Solange europäische Wirtschafts-,Machtinteressen wichtiger sind als die Einhaltung der Menschenrechte ist eine entkrampfte Beziehung zu China im Sinne der Politik. Ob das allerdings in dem von der europäischen Politik gepredigten Humanismus, demokratischen Verständnis ist , bezweifele ich. Europäische Politik im Judas Modus. Für Goldtaler verrate ich meine Ideale.