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Forum / Über Sexualität in der Schule sprechen
Das Titelbild der Broschüre Let's Talk About Sex Foto:Screenshot

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„Let’s talk about sex“, so lautet der Titel einer in drei Sprachen erhältlichen Broschüre, welcher man ebenso gut den Titel „Iwwert Sexualitéit schwätzen“, „Parler de sexualité“, „Über Sexualität sprechen“ hätte verpassen können. Aber Englisch scheint sich in der Zwischenzeit leider – und ich sage dies trotz meiner großen Liebe zu dieser Sprache, wenn man sie dort spricht, wo es passt – zur vierten, noch inoffiziellen Amtssprache etabliert zu haben.

Bei dieser Broschüre, die man bestellen, aber auch online einsehen kann (hier die deutsche Version als PDF), ist mir eine Sache besonders aufgefallen: Sieht man von den anatomischen und physiologischen Aspekten ab, über die ein Wissen vermittelt wird, scheint sich ein Großteil der sexuellen Bildung auf der Schiene der sexuellen Beratung zu bewegen bzw. auf die Beantwortung der Fragen zu reduzieren, die sich Kinder und Jugendliche über Sexualität stellen und die sie unmittelbar in ihrem Alltag betreffen. Und auch eine forum-Nummer, die im Frühjahr 2020 erschienen ist, scheint die Thematisierung der Sexualität in der Schule nur unter einer solchen Perspektive zu betrachten.

Sexualität sollte in der Schule thematisiert werden, allerdings nicht, oder zumindest nicht primär, im Modus der direkten oder indirekten Beratung bzw. Lebenshilfe. Insofern haben Vereinigungen wie das „Planning familial“ auch nichts in der öffentlichen Schule verloren und schon gar nicht in Abwesenheit der für eine Klasse zuständigen Lehrkraft – wie dies vom „Planning familial“ verlangt wird. Damit will ich keineswegs den Nutzen oder Wert ihrer Arbeit leugnen, sondern nur darauf hinweisen, dass diese nützliche und wertvolle Arbeit außerhalb der Schule stattfinden sollte. Und was für das „Planning“ gilt, gilt ebenso für andere Vereinigungen.

Wie sollte in der Schule über Sexualität gesprochen werden?

Seit Jahren arbeite ich an einem Modell, das in meinen Augen zumindest in den höheren Klassen – ab 4e – verwirklicht werden kann und bei dem die Sexualität in einen gesamtkulturellen Kontext eingebettet wird. Ich habe auch schon einige Elemente dieses Modells im tagtäglichen Unterricht praktiziert, doch scheint es, abgesehen von einer Person am Ministerium, die mich von Anfang an unterstützt hat und bei welcher ich mich auch auf diesem Weg bedanken möchte, niemanden in der Aldringerstraße oder beim Referenzzentrum für sexuelle Erziehung zu interessieren. Ein dem allgemeinen Bildungsauftrag der Schule gerecht werdender Umgang mit Sexualität passt einigen Leuten nicht in den Kram, für die ein „sexier“ Umgang passender ist. Sie sehen nur die Beratung, nicht die Allgemeinbildung – wobei die primäre Aufgabe der Schule doch gerade diese Allgemeinbildung sein sollte. Dem „Let’s talk about sex“ möchte ich deshalb, etwas provokativ und wenn es schon auf Englisch gesagt werden soll, ein „Let’s learn about sexuality“ entgegensetzen.

Als ich vor zwei Jahren eine 4e in Geschichte hatte, eine Klasse, auf welcher u.a. das 18. Jahrhundert auf dem Programm steht, habe ich mit den Schülerinnen und Schülern Auszüge aus Tissots damals sehr einflussreicher Schrift über den Onanismus gelesen und wir haben diese Stellen auch kommentiert. Dabei wurde u.a. gezeigt, dass die große Angst vor dem Onanismus nicht so sehr durch die Kirche als vielmehr durch Ärzte, also Naturwissenschaftler propagiert wurde, die sich auf ihren Status als Wissenschaftler und auf ihre – so beschrieb es Tissot – Erfahrung mit Patienten stützten, um die Kunde zu verbreiten, die Selbstbefriedigung führe in manchen Fällen zu einem frühzeitigen Tod. Und das im Zeitalter der Aufklärung.

Waren die Schülerinnen und Schüler am Anfang darüber verwundert, dass man sich im Geschichtsunterricht mit der Frage der Selbstbefriedigung beschäftigt und wurde das Thema am Anfang auch mit dem zu erwartenden Kichern begrüßt, so entwickelte sich der Kurs ganz schnell zu einem normalen Kurs und jede und jeder sprach frei über das Thema Onanismus und über das, was Tissot darüber zu sagen hatte. Dieser Kurs erlaubte es mir auch zu zeigen, dass die Medizin genauso, wenn nicht sogar noch mehr, schuld an den Horrorgeschichten über die Selbstbefriedigung ist wie die Religion.

Auf 4e könnte man ebenfalls den grafischen und literarischen Einsatz von Pornografie als politisches Kritikinstrument im 18. Jahrhundert behandeln. Sowohl das Königtum als auch der Klerus wurden in sexuellen Kontexten dargestellt, um ihnen dadurch ihren, wenn ich so sagen darf, Heiligenschein zu nehmen und dadurch den heiligen Boden zu untergraben, auf dem sie ihrem eigenen Selbstverständnis nach standen.

Auf einer 3e lässt sich das Thema Prostitution im Kontext des Krimkrieges (1854-1856) behandeln. War Großbritannien am Ende auch auf der Seite der Sieger, so stellte man in London fest, dass während dieses Krieges gegen Russland mehr englische Soldaten wegen Krankheiten im Lazarett als durch feindliche Geschosse auf dem Kampfplatz gestorben waren. So leitete man eine Untersuchung über den gesundheitlichen Status der englischen Soldaten ein und entdeckte, dass viele von ihnen an Geschlechtskrankheiten litten. 1864, 1866 und 1869 wurden die sogenannten „Contagious Diseases Acts“ im britischen Parlament gestimmt. Fortan mussten Prostituierte sich einer medizinischen Kontrolle unterwerfen. Sowohl Florence Nightingale als auch und vor allem Josephine Butler sprachen sich gegen eine solche Gesetzgebung aus.

Sexualität in all ihren Facetten

Dieser historische Fall öffnet mehrere Diskussionsfelder: das Militärwesen und die Prostitution; die Prostitution, die zu einem militärpolitischen Problem wird; die Frauen der middle class, die sich politisch engagieren, und zwar auf der Seite von social outcasts usw.

Auf 2e bietet neben der Geschichte (KZ-Bordelle; japanische comfort women, französische Bordels militaires de Campagne …) auch die „Instruction civique“ einen geeigneten Platz, um das Thema Sexualität zu behandeln, indem etwa über die diesbezügliche Gesetzgebung (Prostitution, sexuelle Belästigung usw.)(1) in Luxemburg gesprochen werden könnte. So könnte man etwa den Werdegang des Prostitutionsgesetzes als Beispiel dafür nehmen, wie ein Gesetz in Luxemburg zustande kommt und wie im Umfeld des Gesetzgebungsprozesses von außerparlamentarischen Gruppen versucht wird, diesen zu beeinflussen.

Ohne jetzt detailliert auf jedes Fach einzugehen, möchte ich es bei einigen kurzen Hinweisen für einige Fächer belassen. In der Ökonomie könnte man über die Pornografie als Wirtschaftsfaktor sprechen oder über die ökonomischen Kosten der sexuellen Belästigung für die Betriebe. In den Sprachen und besonders in der Literatur gibt es eine Unmenge an Romanen, Theaterstücken oder Gedichten, die sich mit Sexualität befassen. In der Philosophie und im Fach „Vie et société“ gibt es ebenfalls unendlich viele Möglichkeiten – die in „Vie et société“ auch zum Teil genutzt werden.

In der Biologie und Chemie könnte man über die biochemischen Prozesse bei der sexuellen Lustempfindung sprechen und dann anschließend im Fach Philosophie die „phänomenologische“, also unmittelbar erlebte Dimension dieser natürlichen Prozesse diskutieren, bevor man in der Literatur sieht, wie versucht wurde, diesen Erlebnissen sprachlichen Ausdruck zu geben. Und im Kunstunterricht kann untersucht werden, wie ihnen grafisch Ausdruck verliehen wurde, während der Musikunterricht ihrem musikalischen Ausdruck nachgehen könnte.

In einigen Fächern könnte auch über jene Formen der Sexualität gesprochen werden, die nicht dem herrschenden Modell entsprechen, also der sogenannten Heterosexualität. Warum nicht im Geschichtsunterricht auf die Behandlung homosexueller Menschen im Laufe der Jahrhunderte eingehen? Oder im Philosophieunterricht die Argumente gegen Homosexualität untersuchen, die man bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant findet, sowie Jeremy Benthams Kritik an einem gesetzlichen Verbot der Homosexualität? In dem Psychologie-Optionskurs, den ich am LGE anbiete, gehe ich manchmal auf Freuds Sexualtheorie ein und zeige, wie mit ihm der Gedanke aufkommt, dass Homosexualität beim Erwachsenen keine Sünde ist, sondern das Symptom einer nicht zu Ende gekommenen Sexualentwicklung.

In all diesen Kursen sollte weder die Sexualität der lehrenden noch diejenige der lernenden Personen thematisiert werden – genauso wenig wie im Ökonomieunterricht über die Sparkonten der lehrenden und lernenden Personen gesprochen wird, wenn das Thema der Banken und des Sparens auf der Tagesordnung steht. Das Thema Sexualität sollte vielmehr aus der Distanz diskutiert werden, als etwas, worüber ich zuerst etwas lernen kann, bevor ich mir die Frage stelle, was ich für mich aus dem Gelernten lernen kann. Und indem man in ganz unterschiedlichen Fächern aus der Distanz über Sexualität spricht, gewöhnt man sich daran, über Sexualität zu sprechen, und erscheint sie als eine sozusagen normale Dimension des menschlichen Lebens.

Mag die Sexualität auch ein natürliches Fundament haben, so erscheint dieses Fundament immer im Lichte einer bestimmten Kultur oder menschlichen Lebensweise. Das 20. Jahrhundert hat die Sexualität zum Teil zu einem Mode- und Konsumphänomen gemacht sowie zu einem Identitätspol – manche Menschen definieren sich nicht mehr über ihre politischen Meinungen, ihre religiösen Überzeugungen oder ihre nationale Abstammung, sondern ihre sexuelle Orientierung. Das war nicht immer so und wird voraussichtlich auch nicht immer so bleiben. Eine kulturgeschichtliche Behandlung der Sexualität kann uns hier eine wichtige Verständnis- und, so glaube ich, auch Orientierungshilfe geben.

(1) Um es klar und deutlich zu sagen: Abtreibung hat nichts mit Sexualität zu tun bzw. genauso wenig wie Medizin mit dem Autofahren. Ärzte und Ärztinnen nehmen sich zwar der Menschen an, die einen Autounfall hatten, aber in der Medizin wird nicht über Autounfälle gesprochen. Mag auch heute eine Abtreibung dann vorgenommen werden, wenn ein Sexualakt zu einer ungewollten Schwangerschaft geführt hat, so heißt das nicht, dass es sich bei der Abtreibung um eine Frage handelt, die die Sexualität unmittelbar betrifft. Die Frage der Abtreibung würde sich auch dann stellen, wenn man durch die Ingestion einer bestimmten Frucht schwanger würde. Und sie würde sich auch dann stellen, wenn die Embryos und Föten nicht in der Gebärmutter, sondern im Magen-Darm-Trakt heranwachsen und durch den Mund herauskommen würden. Die Abtreibung ist kein sexueller Akt und deshalb ist Abtreibung auch kein sexualethisches Problem.

Norbert Campagna ist „professeur-associé“ für Philosophie an der Universität Luxemburg und Studienrat für Philosophie, Geschichte, Psychologie und Englisch am Lycée de Garçons Esch. Als Autor bzw. Mitherausgeber von über 30 Büchern hat er sich u.a. mit Sexualethik befasst und wurde in Paris für seine Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet mit der „Trophée de l’Ethique“ ausgezeichnet. Letzte Publikation: Staatliche Macht und menschliche Freiheit. Bertrand de Jouvenels Staatsdenken, Stuttgart 2020. Im Erscheinen: Norbert Campagna, Oliver Hidalgo, Skadi S. Krause (Hrsg.), Tocqueville Handbuch, Stuttgart 2021.

J.C.Kemp
20. Januar 2021 - 16.05

@d'MIM: das Problem ist eben gerade, dass in vielen Familien NICHT über Sex gesprochen wird. Und das gerade in den problematischsten Famillien: den religiös verklemmten und in solchen, wo sexuelle Gewalt besteht.

HTK
20. Januar 2021 - 10.01

@ MIM,
wenn es sich um eine moderne,nicht Indoktrinierte Familie handelt deren Gedanken nicht durch falsche moralische Vorgaben (du sollst keine unkeuschen Gedanken usw.) versiegelt sind,dann ja! Aber davon sind wir noch weit entfernt.

d'MIM
19. Januar 2021 - 20.16

In der Familie könnte ja auch über Sex gesprochen werden!!!
Ist solches Gespräch die Aufgabe der Schule?

HTK
19. Januar 2021 - 11.00

Jetzt wo wir die Prediger der falschen Moral aus den Klassen haben dürfte das Thema doch kein Tabu mehr sein. Warum sollte man nicht über eine der schönsten Seiten des Lebens sprechen? Sexualität ist lange genug kriminalisiert worden.Mit allen schlimmen Folgen die man kennt und noch nicht kennt.