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Stefan Gerlach ist Chefökonom der EFG Bank in Zürich. Er ist ehemaliger Vizepräsident der irischen Notenbank, ehemaliger geschäftsführender Direktor und Chefökonom der Hong Kong Monetary Authority und ehemaliger Sekretariatsleiter des Ausschusses für das globale Finanzsystem der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich.
In „Golden Fetters“, seiner gefeierten Studie über den Zusammenbruch des Goldstandards in der Zwischenkriegszeit, betonte der amerikanische Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen, dass wichtige politische und gesellschaftliche Veränderungen, insbesondere die Ausweitung des Wahlrechts, eine Beibehaltung des Systems unmöglich gemacht hätten. Die Wähler seien nicht länger bereit gewesen, die Sparpolitik zu erdulden, die erforderlich gewesen sei, um am Goldstandard festzuhalten.
Das vorherrschende geldpolitische System wurde in der neuen politischen Landschaft hinweggefegt. Einige Länder, wie etwa die USA und das Vereinigte Königreich, passten sich schnell den neuen Realitäten an, und ihre Volkswirtschaften profitierten. Andere, z.B. Frankreich und die Schweiz, reagierten nur langsam und mussten die Konsequenzen tragen.
Die Notenbanken nähern sich inzwischen einem neuen Moment „goldener Fesseln“. In kaum mehr als einem Jahrzehnt haben die globale Finanzkrise, der Klimawandel und die Covid-19-Pandemie das Umfeld, in dem die Notenbanken operieren, völlig verändert – und die öffentliche Meinung ist nicht auf ihrer Seite.
Zwei Veränderungen in Bezug auf die Stimmung sind besonders offenkundig. Erstens herrscht in der Bevölkerung breite Übereinstimmung darüber, dass die globale Erwärmung real ist und dass die Umweltzerstörung eine ernste Bedrohung darstellt. Viele glauben, dass die Regierungen – einschließlich der Notenbanken – alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, um diese Probleme zu lösen.
Zweitens haben die Reaktionen der Notenbanken auf die Finanzkrise und die Pandemie einen enormen Anstieg der Vermögensungleichheit ausgelöst. Durch Senkung der Leitzinsen auf null oder noch darunter und durch den Ankauf enormer Mengen an Staatsanleihen haben die Notenbanker die Zinssätze entlang der Renditekurve auf ein beispiellos niedriges Niveau gedrückt. In einigen Ländern, insbesondere in Deutschland, sind die Renditen über alle Laufzeiten hinweg unter null gesunken.
Unverzichtbare Maßnahmen
Zwar waren diese Maßnahmen unverzichtbar, um der Wirtschaft einen dringend nötigen Schub zu verleihen. Nur haben sie dies getan, indem sie die Preise für praktisch alle Vermögenswerte, darunter Aktien, Anleihen und Immobilien, in die Höhe getrieben haben. So funktioniert Geldpolitik. Doch findet es ein großer Teil der Bevölkerung grob unfair, dass – während viele Menschen infolge dieser beiden Krisen Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not erlitten haben – die Eigentümer derartiger Vermögenswerte enorm profitierten.
Einige Geldpolitiker haben argumentiert, dass ihr Auftrag ihnen unabhängig vom Stimmungswandel innerhalb der Bevölkerung wenig Rechtfertigung bietet, um die Ungleichheit und Umweltbedrohungen zu bekämpfen. Und ohnehin, so betonen sie, ließen sich diese Probleme mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten nicht wirksam bekämpfen. Diese Argumente enthalten zweifellos ein Körnchen Wahrheit, doch empfinden viele Menschen sie als fantasielos und wenig überzeugend.
Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, hat die Führung dabei übernommen, sich den neuen Realitäten zu stellen, indem sie darauf drängt, den Klimawandel bei der strategischen Überprüfung des geldpolitischen Rahmens der EZB mitzuberücksichtigen. Diese Überprüfung könnte zu dem Schluss kommen, dass die EZB Umweltgesichtspunkte in ihre Entscheidungen darüber einbezieht, welche Vermögenswerte sie im Rahmen ihrer geldpolitischen Operationen als Sicherheiten akzeptiert und wie diese zu bewerten sind. Die europäischen Bankenregulierer könnten dann die Eigenkapitalanforderungen für „grüne“ Vermögenswerte senken oder sie für „braune“ anheben – mit der Begründung, dass die derzeitigen Regeln die mit klimafeindlichen Beständen verbundenen Risiken unterschätzen.
Insgesamt scheinen Notenbanken und Finanzregulierern mehrere Möglichkeiten offenzustehen, um Umweltgesichtspunkte in ihren Politikrahmen einzubinden, so sie das denn möchten. Und da die EZB verpflichtet ist, „die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union zu unterstützen“, was auch die Begrenzung des Klimawandels einschließt, scheint sie in dieser Hinsicht rechtlich auf festem Boden zu stehen. Wichtig dabei: Den Notenbanken ist bewusst, dass sie dazu beitragen können, die Wirtschaft umweltfreundlicher zu machen, ohne dabei ihre primären Ziele in Bezug auf Geldpolitik und Finanzstabilität aus den Augen zu verlieren.
Die Fed verstärkt die Dynamik
Die Federal Reserve (Fed) hat diese Dynamik vor kurzem verstärkt, indem sie als erste wichtige Notenbank Ungleichheitsaspekte in den Rahmen ihrer Politik einbezogen hat. Bei der Bekanntgabe des Ergebnisses der Überprüfung der geldpolitischen Strategie der Fed im vergangenen Monat betonte Notenbankchef Jerome Powell, dass auch Amerikas schwarze und hispanische Bevölkerungen vor Ausbruch von Covid-19 von angespannteren Arbeitsmärkten profitiert hätten.
Powell ergänzte, dass die Fed bei der Entscheidung über ihre Politik nur den Beschäftigungsrückgang gegenüber dem Höchstniveau ins Visier nehmen und sich weniger Sorgen über Situationen machen würde, in denen die Beschäftigung ihr geschätztes höchstes nachhaltiges Niveau übersteigt. Dies spiegelt die zunehmend verbreitete Ansicht wider, dass es unwahrscheinlich sei, dass sehr niedrige Arbeitslosenquoten Inflation auslösen, und dass Haushalte mit niedrigem und bescheidenem Einkommen stark von ihnen profitieren würden.
Angesichts der Tatsache, dass die EZB sich Sorgen über Umweltrisiken macht und die Fed über die Arbeitsmarktchancen von Minderheiten beunruhigt ist, ist es klar, dass sich die Zeiten für die Notenbanken ändern. Andere geldpolitische Entscheidungsträger werden ihrem Beispiel folgen, und wer die Notwendigkeit hierfür nicht erkennt und langsam reagiert, wird dadurch Reputationsschäden erleiden.
Die heutigen Notenbanker wären gut beraten, den Rat des letzten Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, zu beherzigen. Als Gorbatschow im Oktober 1989 die ostdeutsche kommunistische Führung traf, warnte er sie: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Einen Monat später wurden seine Gastgeber und ihr Regime hinweggefegt.
Aus dem Englischen von Jan Doolan. Copyright: Project Syndicate, 2020.
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