Die von unseren Organisationen – EpiAFRIC und Africa Polling Institute – durchgeführte Befragung von 5.315 Personen ergab, dass 84% der Befragten psychische Störungen auf Drogenmissbrauch zurückführen, 60% derartige Erkrankungen mit einer „Krankheit des Gehirns“ verbinden, 54% mit der „Besessenheit durch böse Geister“ und 23% mit einer „göttlichen Bestrafung“. Fast ein Drittel – 32% – sind der Ansicht, dass psychische Störungen vererbt werden.
Angesichts dieser falschen Vorstellungen ist es womöglich keine Überraschung, dass 69% der Teilnehmer erklärten, sie würden keinerlei Beziehung zu Personen mit psychischen Problemen eingehen – die meisten (58%) begründeten das mit Fragen der persönlichen Sicherheit. Nur 26% der Teilnehmer würden ein Freundschaftsverhältnis mit psychisch Kranken eingehen, bloße 2% Geschäfte mit ihnen tätigen und lediglich 1% eine Heirat in Betracht ziehen. Nigerianer werden oft ermutigt, zu überprüfen, ob es in der Familie eines potenziellen Ehepartners Fälle von psychischen Erkrankungen gegeben hat.
Dieses Stigma hat ernste Konsequenzen für Menschen, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Acht Prozent der Umfrageteilnehmer würden jemanden, der erkennbar unter einer psychischen Störung leidet, zu einem traditionalen Heiler beringen, 4% würden ihn einsperren und 2% würden versuchen, ihm die Krankheit auszuprügeln. Angesichts der Tatsache, dass 48% der Umfrageteilnehmer angaben, jemanden zu kennen, der unter einer psychischen Störung leidet – eine Gruppe, die laut einigen Schätzungen bis zu 30% der Bevölkerung umfasst –, haben diese Reaktionen weitreichende Folgen.
Stigmatisierung in Rechtssystem verankert
Was die Sache noch verschlimmert: Die Stigmatisierung psychisch Kranker ist in Nigerias Rechtssystem verankert. Die Betreuung psychisch Kranker wird noch immer durch den Lunacy Act von 1958 geregelt, ein Gesetz aus der Kolonialzeit, das Verstöße gegen die Rechte der Betroffenen faktisch legalisiert. So erlaubt es das Gesetz Ärzten und Richtern, „Geisteskranke“ zu identifizieren und festzulegen, wann und wie lange sie interniert werden sollen – normalerweise in Gefängnissen zusammen mit Kriminellen. Eine Gesetzesvorlage, die den Lunacy Act ersetzen soll, hängt seit 2003 in der Nationalversammlung fest. Obwohl der Gesundheitsausschuss des Senats vor kurzem eine öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf abgehalten hat, ist er noch immer nicht verabschiedet.
Angesichts des gesellschaftlichen Stigmas und des Mangels an Schutz durch die Gesetze zögern mit psychischen Erkrankungen kämpfende Nigerianer verständlicherweise, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Doch selbst wer das tut hat eventuell Schwierigkeiten, Hilfe zu finden. Auch wenn sie ein Krankenhaus aufsuchen würden – wohin laut eigener Aussage 65% der Umfrageteilnehmer einen psychisch Kranken bringen würden –, besteht keine Gewähr, dass es dort qualifizierte Fachleute gibt. Laut der nigerianischen Association of Psychiatrists stehen zur Betreuung der 200 Millionen Menschen in Nigeria nur 250 Psychiater zur Verfügung – einer für 800.000 Menschen. In den USA, die 28.000 Psychiater und eine Bevölkerung von 330 Millionen haben, ist es einer pro 11.786 Menschen.
Angesichts der umfassenden Ausbildung, die Psychiater durchlaufen müssen, wird es Jahrzehnte dauern, diesen Mangel zu überwinden – und auch das nur, wenn junge Leute ermutigt werden, in diesem Bereich tätig zu werden. Deshalb muss die Politik jetzt tätig werden, um – insbesondere durch Korrektur bestehender falscher Vorstellungen über psychische Erkrankungen – das Stigma abzubauen und um schon heute eine ausreichende Betreuung und Unterstützung für die Betroffenen zur Verfügung zu stellen.
Diesbezügliche innovative Ansätze zeichnen sich bereits ab. Die Mentally Aware Nigeria Initiative nutzt die Macht der sozialen Medien, um die Öffentlichkeit über Fragen der psychischen Gesundheit zu informieren. Sie hat zudem ein Suizid- und Kummertelefon eingerichtet, das unmittelbar interveniert und „psychische Erste Hilfe“ leistet, bevor es die Anrufer an Stellen weiterleitet, wo sie eine fachlich qualifizierte Betreuung erhalten können.
Kein Einzelfall
Nigeria ist kein Einzelfall. In Simbabwe leistet Friendship Bench Pionierarbeit mit einem gemeinschaftsgestützten Ansatz, bei dem Laien-Gesundheitshelfer – insbesondere „Großmütter“ (ältere Frauen) – auf Bänken unter Bäumen eine evidenzbasierte Gesprächstherapie erbringen. Eine im Journal of the American Medical Association veröffentlichte klinische Studie hat gezeigt, dass Betroffene, bei denen es eine derartige Intervention gab, nach sechs Wochen deutlich niedrigere Symptomwerte aufwiesen als eine Kontrollgruppe, die eine verstärkte herkömmliche Pflege erhielt.
In weiter entfernten Ländern gibt es sogar noch unerwartetere Innovationen. So nutzt etwa in den USA die gemeinnützige Oasis Alliance mit Sitz in Virginia die Innenarchitektur, um „Erholung, Wachstum und geistiges Wohlbefinden“ traumatisierter Menschen zu unterstützen.
Natürlich kosten derartige Programme Geld. Daher muss die nigerianische Regierung zusätzlich zur Änderung ihrer Gesetze zur psychischen Gesundheit dem Sektor mehr Mittel zur Verfügung stellen. Laut der Weltgesundheitsorganisation gibt die Welt jährlich im Schnitt weniger als drei Dollar pro Kopf für die psychische Gesundheit aus; in einkommensschwachen Ländern kann der Wert bei 25 Cent pro Kopf liegen. In Nigeria deckt das nationale Budget hierfür lediglich den Kapitalaufwand und die Gehälter der bundesstaatlichen neuropsychiatrischen Krankenhäuser ab, und nur ein Bruchteil der ausgewiesenen Haushaltsmittel wird routinemäßig freigegeben.
Im Stich gelassen
Eine Möglichkeit, um die begrenzten Mittel effektiver zu nutzen, bestünde darin, die psychische Betreuung an bestehende geberfinanzierte Programme im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu koppeln. So sollten etwa HIV/AIDS-Programme Leistungen zur Förderung der psychischen Gesundheit für die Betroffenen mit umfassen. Darüber hinaus sollten die Krankenversicherer verpflichtet werden, Leistungen im Bereich der psychischen Gesundheit in ihre Programme aufzunehmen, damit die Betroffenen sie nicht aus eigener Tasche bezahlen müssen – was für viele eine unüberwindliche Hürde darstellt.
Nigeria lässt von psychischen Problemen Betroffene im Stich. Und diese stellen keinen geringen Anteil an der Bevölkerung. Doch durch bessere, unter Einbeziehung von Aktivisten im Bereich der psychischen Gesundheit, Praktikern und Gebern konzipierte und umgesetzte Gesetze, Bildungs- und Unterstützungssysteme kann Nigeria bei der psychischen Gesundheit die Wende schaffen und die Grundlagen für eine gesündere, glücklichere und produktivere Zukunft legen.
*Aus dem Englischen von Jan Doolan.
Ifeanyi M. Nsofor ist Arzt und Senior Atlantic Fellow for Health Equity an der George Washington University. Er ist CEO von EpiAFRIC und Director of Policy and Advocacy bei Nigeria Health Watch. Folgen Sie ihm auf Twitter: @ekemma. Bell Ihua ist Sozialforscher und Experte für Meinungsumfragen. Er ist Executive Director des Africa Polling Institute (API). Folgen Sie ihm auf Twitter: @Bellemskey.
Copyright: Project Syndicate, 2020.
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