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Sommerlektüre: Die sexuelle Revolution war gestern

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Mit „Les Années“ ist in Frankreich vor knapp zehn Jahren ein Buch erschienen, das die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts aufleben lässt. Annie Ernaux’ Sicht auf markante politische und kulturelle Ereignisse setzt sich ab vom männlichen Blick auf die „großen Ereignisse“ der Geschichte.

Von Anina Valle Thiele

„Die Zeit der Kinder löste die Zeit der Toten ab.“ Oder: „Die Inventur war das Todesurteil der Beziehung.“ Es sind kurze, einprägsame Sätze, die Annie Ernaux in „Die Jahre“ aneinanderreiht. Sätze, die etwas von der Zeit retten sollen, in der man nie wieder sein wird, die den Zustand einer Gesellschaft beschreiben und individuelle Erinnerungen an die vergangenen Jahrzehnte wachrufen.

„Les Années“, in Frankreich 2008 publiziert und knapp zehn Jahre später (2017) in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen, ist in Frankreich längst ein Klassiker. Während der Roman im deutschen Feuilleton fast einhellig gelobt und noch immer entdeckt wird, rümpft der elitäre französische Literaturbetrieb eher die Nase vor dem nüchternen Stil der aus der Provinz Aufgestiegenen.

Ernaux trägt diesen Snobismus, der wahlweise Anstoß an ihrer „écriture plate“ nimmt oder ihre Erzählungen als zu modrig empfindet, mit Würde und hat ihren minimalistischen Stil beständig fortentwickelt. Schnörkellos, fast in einem Berichtston, verzichtet sie fast gänzlich auf das „passé simple“ und verweist auf Camus sowie die Prägung durch den Nouveau Roman wie Alain Robbe-Grillet. Die Antithese zu Proust!

Antithese zu Proust

Gerade ihr Stil und die persönlich geprägten Erinnerungen, wie der bisweilen ironische Ton der eigenwilligen Autorin, machen ihre Romane stark.

Über kleine Geschichten in der Geschichte, Anekdoten, lässt sie die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts aufleben, hütet sich – nie belehrend – vor jeder Moralisierung und liefert genaue soziale Beobachtungen, die retrospektiv gelesen politische Entwicklungen präjudizieren.

Wenn(gleich) sie die Jahrzehnte nahezu chronologisch abschreitet, so weiß sie den Beginn „der Krise“ und mit ihr den Durchbruch des Neoliberalismus nicht mehr zu verorten: „Niemand hätte sagen können, wann die Krise, diese düstere, schwer zu greifende Tatsache, zur Ursache der Welt, zu ihrer Erklärung und zum absoluten Bösen geworden war. Sie war es jedenfalls schon, als Yves Montand in einem Dreiteiler, unterstützt von der Libération – die eindeutig nicht mehr die Zeitung war, die Sartre einst gegründet hatte –, verkündete, das Wundermittel gegen die Krise sei eine Stärkung der Unternehmen.“
Wenig später habe Catherine Deneuve diese „himmlischen Aussichten“ bestätigt, fügt Ernaux dem ironisch hinzu, als diese nach der Privatisierung des Energieversorgers Suez für den Kauf von Aktien geworben habe.

Radikale Selbstbefragung

In der radikalen Selbstbefragung der Autorin, die große politische Ereignisse mit ihren persönlichen Erinnerungen zwischen 1940 und dem Beginn des 21. Jahrhunderts verwebt, finden sich reflektierte Alt-68er, kritische Linke und Feministinnen gleichermaßen wieder.
In der dritten Person beschreibt Ernaux, was „man“ und wie es eben „Frau“ (!) in Frankreich erlebt hat, beschreibt Trends, ruft Filme, Lieder und alte Werbeslogans ins Gedächtnis, beschreibt lakonisch den Aufstieg Mitterands oder den Tod von Simone de Beauvoir. Es sind Stationen ihrer Erinnerung, die Zäsuren in ihrem Leben markierten und es in der kollektiven Erinnerung bleiben: „Man machte kurzen Prozess, die Sowjetunion wurde aufgelöst und in ‹Russische Föderation› umbenannt, Boris Jelzin wurde Präsident und Leningrad hieß wieder Sankt Petersburg, was auch praktischer war, denn so fand man sich besser in Dostojewskis Romanen zurecht.“

Die erstickende Atmosphäre von Familienessen Anfang der 80er Jahre wird in ihren Erzählungen plastisch, der Schwindel des Ewiggleichen, durchbrochen von immer wieder aufkeimenden Hoffnungen auf Veränderung.

Die Jahrzehnte des empfundenen Stillstands wecken bei einem gleichermaßen die Erinnerung an eine Kindheit in Deutschland, in der seit eh und je Helmut Kohl Bundeskanzler war, oder in Luxemburg Jean-Claude Juncker Premierminister: „Als François Mitterands seltsam gestricheltes Gesicht auf dem Fernsehbild erschien, konnte man es im ersten Moment kaum glauben. Nach einer Weile ging einem auf, dass man sein ganzes Erwachsenenleben von Präsidenten regiert worden war, die nichts mit einem selbst zu tun gehabt hatten, dreiundzwanzig bleierne, hoffnungslose Jahre, in denen die Politik kein Glücksversprechen bereithielt, mit Ausnahme eines Monats im Jahr 1968.“
Doch auf die kurze sozialistische Hoffnung Anfang der 80er folgte bald wieder die Ernüchterung, der erneute Aufstieg der Rechten.

Jahrzehnte des Stillstands

Identifikationspotenzial bietet das Buch vor allem dann, wenn Ernaux auf ihre Jugend rückblickend reflektiert, was der (Aus-)Weg in die Freiheit sein könnte: „Mehr noch als ein Weg aus der Armut scheint ihr ein Studium das beste Werkzeug gegen die Verstrickungen einer bemitleidenswerten Weiblichkeit zu sein (…). Sie hat nicht vor, zu heiraten und Kinder zu kriegen, die Rolle der Mutter und die der Intellektuellen sind für sie unvereinbar. Sie ist überzeugt, dass sie eine schlechte Mutter wäre. Ihr Ideal ist die freie Liebe aus dem Gedicht von André Breton.“

„Die ‹eigenen Wurzeln› spielten plötzlich eine große Rolle.“ Die Frage der eigenen Herkunft ist in Annie Ernaux’ Romanen Ausgangsmotiv. Aus proletarischen Verhältnissen kommend, hat die aufgestiegene französische Autorin, die ihre Kindheit und Jugend als Krämertochter in Yvetot in der Normandie verbrachte und seit Jahrzehnten im Pariser Vorort Cergy lebt, das Gefühl der „Schuld“ darüber, ihre Eltern mit dem Blick einer Bourgeoisen zu beschreiben, nie ablegen können, wie sie in einem Zeit-Interview verriet. Mit ihrem literarischen Ausbruch, dem Aufbruch aus der Provinz in die große Welt, nach Paris, teilt sie das Schicksal von Didier Eribon, der sich in „Rückkehr nach Reims“ mehrfach auf Ernaux’ Schriften bezieht. Der Bruch mit der eigenen Familie fällt bei ihr allerdings weniger radikal aus, ihr Ton ist versöhnlicher.

Mehrfach erwähnt sie auf einer Metaebene reflektierend in „Die Jahre“ ihr großes Vorhaben und zweifelt an ihrer Fähigkeit, einen Jahrhundertroman zu schreiben: „ (…) ein Buch über ein ‹Frauenschicksal› zu schreiben, von 1940 bis 1985, so etwas Ähnliches wie ‹Ein Leben› von Maupassant, ein Buch, das das Vergehen der Zeit in ihrem Inneren und außerhalb von ihr, in der großen Geschichte, beschreibt, einen ‹totalen Roman ‹ (…) Sie hat Angst, sich in den vielen Facetten der Wirklichkeit, die sie beschreiben will, zu verlieren.“
Aus dieser Sorge heraus ist ein schillernder Roman entstanden: der reflektierte, feministische Blick einer Französin auf ein halbes Jahrhundert. Ein Kaleidoskop an Anekdoten und Erinnerungen, in deren Beschreibungen sich Generationen von Frauen wiederfinden können.

„Die Kämpfe der Vergangenheit gerieten in Vergessenheit, an sie gab es kein offizielles Gedenken“, stellt Ernaux angesichts des devoten Titels „Danke, Männer, dass ihr uns liebt“ einer Frauenzeitschrift an einer Stelle des Buchs fest. Dem Vergessen der nicht eingelösten Versprechen setzt Annie Ernaux mit „Die Jahre“ eine starke Stimme entgegen.


Warum „Die Jahre“ als Spätsommerlektüre?

Achtung: Annie Ernaux’ Klassiker ist keine luftig-leichte Sommerlektüre zum Schmökern à la Elena Ferrante oder Anna Gavalda. „Die Jahre“ von Annie Ernaux ist ein Roman, der einen aufwühlt, und ein feministisches, unprätentiöses und feinfühliges Tableau der vergangenen Jahrzehnte. Ein Buch, das man nicht wieder weglegen will und nicht vergessen wird.