Populismus, Kokettieren mit den Rechten, Scheintransparenz: Den Piraten wird gerade vorgeworfen, alle ihre Ideale über Bord geworfen zu haben. Dabei war der Kurs, den die Partei gerade einschlägt, durchaus vorhersehbar. Eine Analyse.
Der Bericht des Online-Magazins Reporter hat es in sich. Wenn Mitglieder oder Mitarbeiter Kritik an ihrer eigenen Partei ausüben, dann sind sie selten bereit, mit vollem Namen genannt zu werden – vor allem in Luxemburg. Doch Peter Freitag, Mitarbeiter der Partei, und Andy Maar, Ex-Generalsekretär der Piraten, schießen scharf. Sie werfen Mitgliedern der Partei Mobbing vor und bedauern, «was aus der Partei geworden ist». Im Visier der beiden: Marc Goergen und Daniel Frères. Ersterer ist Generalsekretär der Piraten und Abgeordneter, der zweite Vorsitzender des Bezirks Osten und eines der auffälligsten sowie umstrittensten Mitglieder der Partei.
Die breite Öffentlichkeit hätte den Bericht von Reporter fast nicht bemerkt – doch das haben die Piraten selbst verhindert, indem sie dem Online-Magazin in einem Facebook-Post «Fake News» vorwarfen. «Wir sind zu unbequem für eine politische Elite hier im Land», stand plötzlich auf der Parteiseite des Bezirks Süden, der von Goergen geleitet wird. Christoph Bumb, Leiter und Gründer des Magazins, vergleicht die Vorgehensweise des Abgeordneten mit Methoden des US-Präsidenten Donald Trump und der deutschen rechtspopulistischen Partei AfD. In einer Reaktion spricht er von einem «bedenklichen, potenziell gefährlichen Präzedenzfall für den Verfall der politischen Kultur im Land». Dass die Piraten den Kurs so schnell wechseln würden, ist tatsächlich überraschend. Dass sie ihn überhaupt wechseln würden, hatte sich allerdings schon lange angebahnt.
Die Geburtsstunde der Piratenparteien
Die erste Piratenpartei entstand 2006 in Schweden. Ihr damaliger rasanter Erfolg hatte sie vor allem den Medien zu verdanken. Eine Partei, die ausschließlich auf digitale Themen setzt, sich für ein freies Internet engagiert und sich außerhalb des klassischen Parteienspektrums sieht, das war neu. Innerhalb weniger Wochen nach der Gründung der Partei hatten zahlreiche schwedische und internationale Medien über sie berichtet. Die Zahl der Mitglieder wuchs stetig. Ein paar Monate nach der Entstehung der Piratenpartei stürmte die schwedische Polizei das Datacenter, das unter anderem die Internetseite «The Pirate Bay» beherbergte. Auf der Plattform konnten Dateien mit Filmen, Musik und Videospielen kostenlos verteilt werden. Die Piratenpartei organisierte Demos und setzte sich für ein freies Internet ein. Die Mitgliederzahl explodierte.
Rick Falkvinge – als Gründer der schwedischen Piratenpartei ist er der Ur-Pirat
Plötzlich ging alles sehr schnell. In anderen Ländern, unter anderem in Deutschland, wurden Piratenparteien nach dem schwedischen Vorbild gegründet. Das mediale Interesse war auch in den jeweiligen Ländern sehr groß. Im Oktober 2009, ein paar Monate nach den Parlamentswahlen, folgte auch Luxemburg. Mit dabei: Sven Clement und Jerry Weyer. Die beiden waren jahrelang die wichtigsten Figuren der Partei. Im Jahr 2014 gründeten sie gemeinsam ein Unternehmen, das digitale Kommunikationsberatung anbietet. Clement leitete die Partei seit ihrer Gründung bis zum Februar 2019. Weyer stand ihm in den ersten drei Jahren als Vizepräsident zur Seite, bevor er sein Amt im Oktober 2012 an Marc Goergen abgab. Er zog sich in den darauffolgenden Jahren immer weiter aus der Partei zurück.
Innerparteiliche Demokratie und Mitspracherecht
Die Piraten verzichteten, bei den Gemeindewahlen von 2011 anzutreten. Stattdessen bauten sie sich im Hintergrund langsam auf und nahmen 2013 erstmals an den Parlamentswahlen teil. Ein Beben war gerade durch Luxemburg gegangen, als der damalige Premierminister Jean-Claude Juncker (CSV) über die Geheimdienstaffäre stolperte und Neuwahlen ausgerufen wurden. Die Piraten gingen mit dem Slogan «Luxemburg neustarten» in die Wahl. Weyer meinte damals in einem Gespräch mit dem Luxemburger Wort, dass die Partei ein «sozial-liberales politisches Grundverständnis» habe. Sie setzte sich für ein Grundeinkommen, das Wahlrecht für Nicht-Luxemburger und die digitale Revolution ein. Was für Weyer damals im Wort-Artikel das Außergewöhnliche an den Piraten war: die innerparteiliche Demokratie und das Mitspracherecht der Mitglieder.
Den Kampf gegen rechts, den sich die Partei auch heute noch auf die Fahne schreibt, nahmen die Piraten damals ernst. Als ans Licht kam, dass Georges Dessouroux, einer ihrer Kandidaten auf der Zentrumsliste, ausländerfeindliche Positionen vertrat, wurde er von der Liste gestrichen und von der Partei ausgeschlossen. Dessouroux war in verschiedenen rechtsextremen Organisationen aktiv, darunter die Vereinigung «Eist Land – eis Sprooch» und die Partei «Lëscht fir de Lëtzebuerger». Den Piraten gelang ein Achtungserfolg: Sie erhielten fast 3 Prozent bei den Parlamentswahlen. Ein paar Monate später überzeugten sie bei den Europawahlen 4,23 Prozent der Wähler.
Der Aufstieg des Marc Goergen
Die Piraten waren in der politischen Landschaft angekommen. Sie erhielten nun Parteienfinanzierung vom Staat. In Kopstal richteten sie sich 2014 eine Parteizentrale ein. Weil sich Jerry Weyer in den Jahren davor zurückgezogen hatte, rückte Piratengründer Sven Clement immer weiter in den Mittelpunkt. Er war das Gesicht nach außen, die oberste Autorität der Partei. Sven Clement war die Piraten und die Piraten waren Sven Clement. Die restliche Partei arbeitete ihm zu. In den Jahren seit der Gründung machte ihm keiner diese Position streitig. Im Reporter-Artikel meint einer der Kritiker, er habe das Herz am rechten Fleck. Man könne ihm aber Opportunismus vorwerfen.
Marc Goergen hält eine Rede bei der Feier zum fünften Geburtstag der Piratenpartei im Jahr 2014
Doch während Clement weiter an der Partei feilte, baute sich im Hintergrund ein neuer Machtpol auf: Marc Goergen. Bei den Parlamentswahlen 2013 konnte er mit über 5.000 Stimmen überzeugen. Dabei war er erst im Januar 2012 in die Partei eingetreten. Im Oktober des gleichen Jahres wurde er bereits Vizepräsident. Seine politische Karriere begann der Petinger bei der DP. Im Jahr 2011 trat er in seiner Heimatgemeinde bei den Gemeindewahlen an und wurde Sechster auf der DP-Liste. Nur ein paar Monate später trat er aus und wurde Mitglied bei den Piraten. Wegen seines Erfolges bei den Parlamentswahlen 2013 fing Clement an, Goergen aufzubauen – und sich im Zweifelsfall hinter ihn zu stellen.
Ein richtungsweisender Kongress
Goergen hatte nicht nur Freunde in der Partei. Auf einem Kongress im Oktober 2015 kam es zu einem ersten richtungsweisenden Eklat. Eine Gruppe um das damalige Piratenmitglied Sven Wohl, vor allem sogenannte «Ur-Piraten», die die digitalen Themen der Partei vertreten, wollte den Vizepräsidenten loswerden. Sie stellte Wohl als Gegenkandidaten auf und wählte ihn mit Vollmachten – also mit Stimmen von Mitgliedern, die nicht kommen konnten – ins Amt. Das ließ sich Goergen nicht gefallen. Er schaltete Sven Clement ein. Der Südbezirk, den er leitete, werde im Parteipräsidium vernachlässigt, so Goergens Vorwurf. Nach Verhandlungen wurden seinem Bezirk mehr Geld, feste Präsidiumsposten und mehr Autonomie zugesprochen.
Die Episode von 2015 war der Anfang einer neuen Piratenpartei. Clement hatte Erfolgsluft geschnuppert und war bereit, weiter zu gehen als bisher. In Deutschland war die Piratenpartei mittlerweile in der Bedeutungslosigkeit versunken. Der Chef wusste also, dass es in Luxemburg um alles oder nichts ging.
Frères im Rampenlicht
Im Oktober 2017 sollte das, was sich beim Kongress von 2015 angebahnt hatte, in Stein gemeißelt werden. Bei den Gemeindewahlen schafften die Piraten es, drei Gemeinderäte zu stellen. In Petingen wurden Marc Goergen und der spätere Parteipräsident Starsky Flor gewählt. Im Osten schaffte Daniel Frères den Sprung in den Gemeinderat. Der Tierschützer war schon während des Wahlkampfes wegen seiner umstrittenen Methoden aufgefallen. Er steht dem Boulevardblatt Lëtzebuerg Privat nahe. Die Zeitung wollte eigentlich eine Spezialausgabe mit Gratisverteilung für Remich drucken. Auf dem Titelblatt: «Kox muss weg». Gemeint war der Remicher Bürgermeister Henri Kox («déi gréng»).
Foto: Bei den Gemeindewahlen von 2017 verbuchte die luxemburgische Piratenpartei einen ersten Wahlerfolg – und der Tierschützer Daniel Frères (links im Bild) rückte ins Rampenlicht
Obwohl Frères davor politisch nicht wirklich aufgefallen war, konnte er auf zahlreiche Unterstützer aus einem anderen Feld zurückgreifen. Seit Jahren führt er die Tierschutzorganisation «Give Us A Voice». Auf den sozialen Medien folgen der Organisation mittlerweile 46.000 Menschen. Der Erfolg bei den Gemeindewahlen sollte allerdings nicht das Ende der Entwicklung der Piraten bedeuten. Kurz nach den Wahlen veröffentlichte Claude Feltgen, eines der ersten Mitglieder der Partei, einen langen Brief auf seinem Blog, in dem er seinen Austritt erklärt. In dem Schreiben ging er hart mit der Parteileitung und der Entwicklung der Piraten in den vergangenen Jahren ins Gericht. Er spricht von toleriertem Mobbing und einer Partei, die ihre Richtung verloren hat.
Der Zweck heiligt die Mittel
Parteichef Sven Clement hat allerdings zu Goergen eine klare Meinung. Er stärkt ihm wieder einmal den Rücken und meint lapidar: «Der Erfolg gibt ihm recht.» Im Dezember des gleichen Jahres findet ein Kongress statt, auf dem der Richtungswechsel der Piraten zementiert wird: Daniel Frères wird Vizepräsident der Partei. In einem Interview, das Clement im Dezember 2017 dem Tageblatt gab, erklärte er, dass die politischen Akzente von Goergen (der zu dem Zeitpunkt Generalsekretär ist) und Frères sicherlich stärker zur Geltung kommen werden. Im gleichen Interview gibt er zu, dass die Parlamentswahlen im Oktober 2018 richtungsweisend sein werden, was die Zukunft der Partei angeht. «Wir alle glauben an unsere Ideale», meinte er. «Aber natürlich muss man irgendwann einsehen, wenn keiner einen wählen will, dass man möglicherweise im falschen Zug sitzt.»
Nur sind die Ideale die eine Sache, die Köpfe eine andere. Auch Clement weiß, dass im luxemburgischen Wahlsystem vor allem Menschen und weniger Ideen gewählt werden. Kurz nach dem Kongress im Dezember kündigten die Piraten eine Zusammenarbeit mit der PID an. Die Partei drehte sich um den Arzt Colombera, der sich in Luxemburg vor allem als Cannabis-Aktivist einen Namen gemacht hatte. Den Kontakt hatte Frères, der der PID eine Zeit lang angehört hatte, hergestellt. Die beiden Parteien wollten ihre Kräfte bündeln, um den Sprung ins Parlament zu schaffen.
Dream-Team Goergen-Frères
Auf einem Piraten-Kongress im Mai 2018, auf dem die Parlamentswahlen vorbereitet werden sollten, traten die Streitereien bei den Piraten an die Öffentlichkeit. Die «Ur-Piraten» griffen die Methoden und Aussagen des Kandidaten Daniel Frères an. Marc Goergen, für den Frères mittlerweile zum wichtigen Verbündeten geworden ist, sprang ihm zur Seite und nahm ihn in Schutz, so wie Clement es früher für ihn getan hatte. In der ganzen Aufregung ging die Kooperation mit der PID, die eigentlich an dem Tag im Vordergrund stehen sollte, fast unter. Von Journalisten auf die Causa Frères angesprochen, meinte Clement noch am gleichen Abend vor der Tür des Kongresssaales, dass er sich durchaus bewusst ist, dass Frères spaltet. Doch auch er nahm ihn in Schutz und warf den Journalisten vor, sich auf ihn einzuschießen. Die Machtkämpfe, die seine Partei schon seit mindestens 2015 plagten und nun langsam an die Öffentlichkeit gelangten, ignorierte er. Genau wie die Methoden von Frères und Goergen.
Foto: Eines der Wahlplakate der Piraten bei den Parlamentswahlen von 2018, auf dem Kandidat Marc Goergen zu sehen ist, löst sich von seiner Halterung.
In den Wochen vor den Wahlen des 14. Oktober 2018 fielen die Piraten vermehrt auf. Ihr Wahlprogramm strotzte nur so vor populistischen Forderungen – wie beispielsweise «Wohnungen für 10 Euro pro Quadratmeter». Auf Facebook tauchten immer wieder ihre Werbungen auf. Prominent mit dabei vertreten: Daniel Frères, der immer wieder an seinen Einsatz für die Tiere erinnerte.
Einzug ins Parlament
Die Rechnung ging auf. Als am Wahltag die ersten Resultate veröffentlicht wurden, war ein deutlicher Aufwärtstrend für die Piraten zu erkennen. Plötzlich waren sie in aller Munde. Am Ende des Tages sollte sich ihr Resultat im Vergleich zu 2013 mehr als verdoppeln. Die Partei durfte mit Sven Clement und Marc Goergen zwei Abgeordnete ins Parlament schicken.
Doch die Entwicklung der Piraten war damit noch lange nicht beendet. Kurz nachdem die beiden Parlamentarier ihre Arbeit aufnahmen, platzte die nächste Bombe: Die Partei ging eine Allianz mit der rechtskonservativen ADR ein. Durch diese Zusammenarbeit wurden beide Parteien zur Fraktion. Sie erhalten mehr Geld, mehr Redezeit und wichtigere Posten im Luxemburger Parlament. Den Vorwurf, einer rechten Partei zu mehr Mitteln zu verhelfen, wehrte Clement damals ab. Es sei vor allem seine Partei, die von der Allianz profitiere, meinte er. Der Aufschrei war groß. Die Piraten hatten in den Monaten davor immer wieder gemeint, dass sie sich gegen rechte Parteien einsetzen würden. Einer der größten Verfechter dieses Anliegens: ausgerechnet der Abgeordnete Marc Goergen, der die Zusammenarbeit mit der ADR auch mitträgt.
Ende der Ära Clement
Im Dezember kündigten die Piraten schließlich an, welche sechs Kandidaten sie in den EU-Wahlkampf schicken. Auch Daniel Frères steht auf der Liste. Clement musste kurz darauf die Parteileitung aufgeben. Die Parteistatuten besagen, dass ein Abgeordneter nicht auch Präsident sein kann. Auf einem Kongress im Februar wurde eine Doppelspitze eingeführt. Sie wurde mit Starsky Flor und Marie-Paule Dondelinger besetzt. Wie das Tageblatt im Februar 2019 aus Parteikreisen erfuhr, wurde Frères abgeraten, sich aufzustellen. Damit sollte verhindert werden, dass so kurz nach dem Eintritt in das Parlament der alte Streit wieder neu aufflammt. Georgen behielt seinen Posten als Generalsekretär. Er wurde lediglich in «Koordinator» umbenannt. Mit Clement ging das Bindeglied, das die letzten Jahre die Partei noch einigermaßen zusammenhielt.
Foto: Der ADR-Abgeordnete Gast Gibéryen (rechts) mit den beiden Piratenabgeordneten Marc Goergen (links) und Sven Clement (Mitte)
Vor den EU-Wahlen am Sonntag ist die Zukunft der Partei ungewiss. Die Methoden des Daniel Frères stehen stärker in der Kritik denn je. Jean Nicolas, der Herausgeber der Zeitung Lëtzebuerg Privat, hat mittlerweile seine Sympathie für Frères niedergeschrieben und in Form einer Wahlempfehlung veröffentlicht. Goergen lässt sich nach der Kritik, die von Parteimitgliedern und Mitarbeitern geäußert wurde, auf das Niveau von Populisten herab und greift die Presse an. Und Sven Clement? Der hält sich bedeckt. Alle Wege haben ihn zum «Krautmaart» geführt. Die Partei ist nun nicht mehr sein Problem.
Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.