38 Jahre lang hat Marcel Raths Großherzog Jean die Haare geschnitten. Jeden Monat ein Mal. Dabei blieb die Frisur fast immer die gleiche. Der Großherzog mochte keine Veränderungen. Nach dem Tod des Staatsoberhauptes blickt der heute 96-Jährige auf seine Zeit als «Coiffeur de la Cour» zurück.
Marcel Raths war 39 und ganz schön aufgeregt, als er Großherzog Jean zum ersten Mal die Haare schnitt. «Ich habe mir immerzu Gedanken darüber gemacht, wie ich ihn begrüßen soll. Ob er nun schon sitzt, wenn ich in das Zimmer komme, oder ob er wohl dort steht?», lässt Raths den ersten Besuch auf Schloss Berg Revue passieren. Ein Fahrer hatte ihn bei sich zu Hause in Bissen abgeholt und vor dem Schloss abgesetzt. Als Raths das Zimmer betrat, habe Großherzog Jean ihm beide Hände auf die Schultern gelegt, ihn angelächelt und dann gesagt: «Herr Raths, wie schön es ist, dass sie gekommen sind!»
Das Eis war gebrochen. Danach war der gelernte Friseur nie wieder aufgeregt, wenn er die Haare des Staatsoberhauptes schnitt. «Das konnte er gut», sagt Raths über Jean, «den Menschen die Angst nehmen.»
Mit sieben Jahren half er im Friseursalon des Vaters
Seit diesem Tag und bis ins Jahr 2000 hat Marcel Raths dem Großherzog und seinen fünf Kindern die Haare geschnitten. Danach übernahm seine Schwiegertochter, den Job macht sie auch heute noch. Ungefähr einmal im Monat wurde Raths ins Schloss gebracht, um die königliche Familie zu frisieren. Nur an das Haar von Großherzogin Charlotte durfte er nicht: «Sie hatte eine eigene Friseurin.»
Haare schneiden lernt Marcel Raths sehr früh. Sein Vater eröffnet 1911 einen Friseursalon in Bissen. Als Raths drei ist, stirbt seine Mutter. Er und sein Bruder müssen früh im Salon helfen. Mit sieben sitzt der Junge bei den Kunden auf dem Schoß und seift ihre Bärte ein. «An einem Samstag haben wir gut 80 Bärte gemacht», erzählt Raths. Damals hatten die Menschen keine Rasierklingen bei sich zu Hause, sie mussten also zum Friseur.
Als Marcel Raths 1965 den Friseursalon seines Vaters übernimmt, hat er bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Während des Zweiten Weltkriegs lässt sich der damals 21-Jährige Tricks einfallen, um nicht in die Wehrmacht eingezogen zu werden. «Das war die Lieblingsgeschichte des Großherzogs. Ich musste sie ihm bestimmt mehr als zehn Mal erzählen», lacht Raths.
Doch wie kam es eigentlich dazu, dass Marcel Raths die Haare des Großherzogs schneiden durfte? Damals war es nicht einfach, sich als Friseur in einem kleinen Dorf einen Namen zu machen. Also meldet sich Raths beim «Club artistique» an. Er nimmt an Friseurwettbewerben in Brüssel, New York und anderen großen Städten teil. Beim «Championnat de France» in Paris belegt er den siebten Platz unter 130 Friseuren. «Das war ein schönes Resultat, das mir viel Werbung eingebracht hat», erinnert sich der 96-Jährige.
Marcels Bruder, Aloyse Raths, war Lehrer am großherzoglichen Hof. Mittags aß er immer in Schloss Berg. Einmal sagte er dann, er würde jetzt noch nach Bissen zum Friseur fahren. Sein Bruder würde dort Haare schneiden. Das war ein Monat nach dem Wettbewerb in Paris. Und so kam es, dass Großherzog Jean nicht der erste königliche Schopf war, den Marcel Raths frisierte.
Verschollen in der Waffenkammer
Sein Können sprach sich am Hof herum und die Familie schickte den damaligen Erbgroßherzog Henri mit einem Fahrer nach Bissen. Henri war damals elf. «Er war mein Testmodell», witzelt Raths. Nur wenige Stunden, nachdem er dem Prinzen die Haare geschnitten hatte, erhielt er einen Anruf. Er habe Henri so schön hergerichtet. Ob er nicht schon am nächsten Tag nach Colmar-Berg ins Schloss kommen könne, um auch Großherzog Jean zu frisieren, lautete die Frage.
Das wurde mit der Zeit zu einer Routine. Die beiden Männer sprachen während des Haareschneidens kaum miteinander. «Ich war keiner, der während der Arbeit viel redete», sagt Raths. Er habe sich konzentriert. Nur manchmal setzte er sich nach der Arbeit noch mit dem Großherzog hin und erzählte ihm seine Lieblingsgeschichte. Die Frisur des Großherzogs blieb immer die gleiche. «Er mochte keine Veränderungen», sagt Raths.
Während seiner Zeit als «Coiffeur de la Cour» hat Marcel Raths Situationen erlebt, die einen zum Schmunzeln bringen. Einmal musste er nicht nach Colmar, sondern in den hauptstädtischen Palast. Er war allerdings vor dem Großherzog dort, sodass der Colonel ihn bat, im Waffenzimmer Platz zu nehmen. Er würde abgeholt werden, wenn Großherzog Jean eintrifft.
Als dieser ankommt, begrüßt der Colonel ihn und geht – ohne ihn darauf hinzuweisen, dass Marcel Raths im Waffenzimmer wartet. «Auf einmal habe ich gehört, dass sie mich suchen», erzählt Raths. Als er aus dem Waffenzimmer kommt, wundern sich alle – und lachen. «Dann hat doch noch alles geklappt und ich habe den Großherzog wie immer bedient.»
Ein anderes Mal sollte Marcel Raths um 5 Uhr in Colmar sein. Das war 1986. Er kam wie immer mit seinem Koffer, bereit, zur Schere zu greifen. «Aber dann wurde ich auf einmal in ein anderes Zimmer gebracht als gewöhnlich.»
«Heute wird nicht gearbeitet, heute ist es an ihnen», hat der Großherzog dann zu ihm gesagt und ihm die goldene «Médaille de mérite» überreicht. «Er wollte mich überraschen – und das hat er geschafft», erzählt der 96-Jährige mit zitternder Stimme.
Die Lieblingsgeschichte von Großherzog Jean
Marcel Raths war während des Zweiten Weltkriegs im Arbeitsdienst in Griechenland. Als dieser vorbei war, kam er zurück nach Bissen, wo er einen Brief vorfand. In nur acht Tagen solle er in die Wehrmacht eintreten. Das wollte der damals 21-Jährige nicht. Er geht also zum Arzt und sagt ihm, er wolle, dass sein Blinddarm entfernt wird. Ob er denn Schmerzen habe? Nein, hatte er nicht.
Der Arzt schickt ihn wieder nach Hause. Der Grund: Die diensthabende Schwester war überzeugte Nationalsozialistin. Sie hätte sein Vorhaben durchschaut und ihn verraten. Der Arzt lässt Raths übermitteln, er solle noch einmal wiederkommen und behaupten, er habe Schmerzen. Daraufhin wird Raths operiert und bleibt zwei Monate freigestellt. Er gewinnt Zeit.
Raths kennt einen Friseur, der in der Kaserne in Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz arbeitet. Dieser teilt ihm mit, dass dort noch ein Friseur gebraucht wird. Raths stellt sich dort vor und wird umgehend eingestellt. Nach ein paar Monaten soll er dennoch als Soldat anfangen. «Der Raths, der hat noch zwei Beine, den nehmen wir», sagt der Befehlshabende. «Wenn sie noch einen Friseur brauchen, dann bekommen sie einen mit einem Bein.»
Marcel Raths flüchtet. Er kauft sich ein Zugticket nach Luxemburg und geht das Risiko ein. Er steigt in Bingen aus und macht sich im Dunkeln auf die Suche nach dem Rhein, denn er hat einen Plan. Raths hat eine Anzugjacke dabei: In den Taschen befindet sich seine Brieftasche mit all seinen Dokumenten. Daneben ein Abschiedsbrief, der an seinen Vater gerichtet ist. Es soll so aussehen, als sei er in den Fluss gesprungen und habe sich das Leben genommen.
Damit niemand herausfindet, dass er nach Luxemburg fährt, holt er sich ein Ticket nach Saarbrücken. Er versteckt sich im Wartesaal, als ein Bekannter den Raum betritt. Dann verlässt er den Raum und spaziert am Gleis hin und her. Auf einer Bank schläft er ein. Sein Glück: Der Schaffner, der ihn weckt, fragt nicht nach seinen Papieren. Unterwegs nach Luxemburg wechselt er mehrmals den Waggon.
Vom Hauptbahnhof aus nimmt Raths die Tram zu seinem Onkel auf Limpertsberg. Dort versteckt er sich, fühlt sich aber schon bald nicht mehr sicher. Er versteckt sich beim Nachbarn, später bei einem alleinstehenden Mann in seinem Heimatdorf Bissen. Dort hat Marcel Raths einmal abgewaschen. Als er das Wasser abschüttet, läuft es nach außen heraus. Der Mann, bei dem er sich versteckt, steht gerade draußen und unterhält sich mit einem Nachbarn. Dieser wird stutzig: «Hast du Besuch?», fragt er. «Das ist die Katze, die spielt immer am Wasserhahn», antwortet der Hausbesitzer und rettet Raths damit das Leben. Nach insgesamt elf Monaten des Versteckens ist der Krieg zu Ende und Raths ist endlich wieder frei.
gudden Fotograf