In der Ukraine sind am Sonntag rund 30 Millionen Bürger aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Unterdessen ist der Konflikt in der Ostukraine eingefroren. Wie erleben die Menschen den täglichen Wahnsinn? Eine Historikerin erzählt von ihrem Hass, ein Politologe von Musik und Krieg.
„Ich habe Hass in mir“
Die ukrainische Historikerin und Schriftstellerin Olena Styazhkina kämpft mit sich, dem Hass und der Krim-Annexion. Ein Interview über Freiheit, Freundschaft und Familie.
Zur Person
Olena Styazhkina ist eine russisch-ukrainische Historikerin und Schriftstellerin. Sie wurde 1968 in der Ukraine in Donezk (Donbass) geboren. Styazhkina ist 2014 vor der russischen Okkupation aus Donezk geflüchtet. Sie war Professorin für Geschichte an der Nationaluniversität Donezk und lehrt mittlerweile in Kiew am Geschichtsinstitut der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften.
Styazhkina war auf Einladung der „Ad Pacem Servandam asbl“ in Luxemburg, die sich um die Übersetzung gekümmert hat.
Tageblatt: Wie fühlen Sie sich seit der Krim-Annexion?
Olena Styazhkina: Ich kenne meine eigene Persönlichkeit noch nicht ganz genau. (lacht) Ich bin Ukrainerin. Das ist mir in den letzten fünf Jahren klar geworden.
Waren Sie seitdem zu Hause?
Nein.
Warum?
Ich wurde zum Feind des Donezker Volkes erklärt. Dabei bin ich „nur“ eine Feindin der Okkupation.
Wer hat Sie zum Feind erklärt?
Die amtierenden Machthaber führen Listen. Dort vermerken sie ihre Feinde. Das sind Praktiken aus Stalins Zeiten. Sie kopieren diesen Stil. Die Listen hat aber noch niemand gesehen.
Welchen Zweck erfüllen sie?
Jeder, der die Wahrheit über den Krieg sagt, ist gewarnt. Wer auf der Liste steht, darf nicht nach Donezk zurück.
Sie leben jetzt in Kiew. Wie sieht Ihr Alltag aus?
Ich schreibe wissenschaftliche und literarische Bücher. Ich habe Probleme damit, mich selbst Schriftstellerin zu nennen.
Warum?
Beides gleichzeitig ist schwierig. Es gibt mir allerdings Möglichkeiten, Analogien zu sehen und zu erkennen, zu was verschiedene Entwicklungen führen können.
Wie beeinflusst der Krieg Ihr literarisches Schreiben?
Es fällt mir schwer, über den Krieg zu reden. Ich kann aber darüber schreiben. Es ist eine traumatische Art des Schreibens. Ich kann Fehler begehen. Sie erlauben mir die Suche nach mir selbst. Ich suche meinen Platz im Krieg.
Wie meinen Sie das?
Ich versuche, Mensch zu bleiben. Der Krieg ist so voller Hass. Ich habe Hass in mir. Wenn der Hass die Oberhand gewinnt, höre ich auf, Mensch zu sein. Ich will aber Mensch bleiben.
Fällt Ihnen das schwer?
Ich verliere meine Menschlichkeit fast jeden Tag. Ich muss sie Tag für Tag wiederfinden. Das ist wichtig für mich. Finde ich sie nicht, tötet das mich.
Wen hassen Sie?
Ich bin mir trotz des Hasses bewusst, dass die Leute, die unter der Okkupation leben, keine Schuld am Krieg tragen. Die Okkupanten sind die Schuldigen.
Was fühlen Sie, wenn Sie an Russland denken?
In der Ukraine gibt es den Spruch: Gutmütigkeit kann man nicht exportieren. Wir haben gegenüber den Russen keine Gutmütigkeit. Wir brauchen diese Ressourcen für unsere Leute. Das ändert sich vielleicht in 50 Jahren.
Was bereitet Ihnen Freude?
Ich habe keine Freude. Ich spiele sie nur vor. (sie lacht laut)
Was gibt Ihnen Kraft?
Die Ukraine gibt mir als freies Land Kraft. Das ist ein wunderbar seltsames Gefühl. Wir haben so lange als Teil der ehemaligen Sowjetunion gelebt. Die Ukraine ist für uns ein Symbol der Freiheit.
Wie geht Ihre Familie mit dem Krieg um?
Ich wünsche meinen Kindern eine freie Ukraine. Ich hoffe, sie müssen nicht über Okkupation und Gefängnisse sprechen.
Ihre Kinder sind mit Ihnen geflüchtet. Wie geht es ihnen?
Meine Tochter ist Psychologin. Sie arbeitet als Freiwillige mit Menschen, die Kriegstraumata verarbeiten. Sie sagt, ich sei ihr schwierigster Patient.
Sie haben auch einen Sohn.
Ja, mit ihm ist es komplizierter.
Warum?
Er wollte die ersten Jahre gar nicht über den Krieg sprechen. Jetzt fangen wir an, über unser Haus und alles zu reden, was wir zurückgelassen haben. Er weiß nicht, ob er zurück will.
Und Sie?
Ich will unbedingt zurückkehren. Ich bin mir bewusst, dass die Arbeit erst nach der Rückkehr anfängt. Jemand muss es tun. Da steht noch immer ein Lenin-Denkmal. Das muss weg. (schmunzelt)
Haben Sie noch Familie im Kriegsgebiet?
Der größte Teil unserer Familie ist aus Donezk geflüchtet. Wir haben Kontakt mit denjenigen, die geblieben sind. Ich habe eine Freundin, die in Donezk lebt. Sie sagt: „Ich bin hier geblieben, um die ukrainische Armee mit Blumen zu begrüßen.“
Glauben Sie an den Frieden in der Ukraine?
Das wird kompliziert. Die Leute, die jetzt in Donezk leben, warten auf die ukrainische Armee. Die Stimmung hat sich wesentlich verändert.
Inwiefern?
Die Menschen sind müde von der Gewalt. Sie haben die Rechtlosigkeit satt. Leute werden mitten auf der Straße festgenommen und erpresst. Im schlimmsten Fall werden sie zum ukrainischen Spion erklärt.
Die Ukraine ist ein vergessener Konflikt. Ärgert Sie das?
Normale Menschen haben das Recht, nicht zu wissen, dass irgendwo auf der Welt die Ukraine oder Luxemburg existiert. Meine Schmerzen sind nicht automatisch ihre Schmerzen. So tickt die Welt.
Haben Sie Angst?
Wir haben keine Angst. 2014 hatten wir im März und April Angst. Jetzt ist uns klar, was wir im schlimmsten Fall machen müssen.
Und zwar?
Jeder kann mittlerweile Erste Hilfe leisten, viele können schießen, viele haben Lehrbücher studiert, wie man partisanische Bewegungen organisiert. Jeder hat eine kleine Tasche mit dem Wichtigsten, damit man direkt verschwinden kann. Wir sind uns einig, dass wir nicht mehr weglaufen dürfen.
Wären Sie dazu bereit, in den Krieg zu ziehen?
Ja. (antwortet, ohne zu zögern)
Haben Sie russische Freunde?
Ich habe seit 2014 keinen Kontakt mehr mit Russen. Ich will mich nicht in den Freunden täuschen, die ich einmal hatte. Ich kann sogar für sie gefährlich sein.
Warum?
Putin geht gegen die eigene Opposition im Land vor. Mein biologischer Vater lebt zum Beispiel in Sankt Petersburg.
Ist Hass stärker als Freundschaft?
Man muss sich entscheiden. Wenn ein russischer Intellektueller sagt, er trage keine Schuld und meint, der Krieg sei unser inneres Problem, ist das für mich kein Intellektueller. Dann hört er auf, mein Freund zu sein.
Was erwarten Sie sich von dieser hasserfüllten Rhetorik?
Ich wünsche mir, dass die Leute die Ukraine auf der Landkarte finden. Sie müssen sich bewusst werden, dass die Ukraine noch täglich Soldaten im Krieg verliert. Auch wenn es fantastisch-imaginär klärt: Dieser Krieg ist eine Frontlinie zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen Leben und Tod, zwischen Barbarei und Zivilisation. Diese wichtige Grenze muss die Ukraine halten.
Was halten Sie von Ihrem Präsidenten Petro Poroschenko?
Unser Präsident ist ein starker Kämpfer. Es ist ihm gelungen, dass Europa nicht eingeschlafen ist. Einen Präsidenten kann und muss man natürlich kritisieren.
Der Vorwurf lautet, Poroschenko sei Teil des korrupten Systems.
Korruption ist ein großes Problem. Aber ich glaube, dass das Problem der Korruption in der Ukraine mittels „Fake News“ übertrieben dargestellt wird. Es gibt viele propagandistische Aktionen, damit die Europäer die Ukraine weiter als rein korruptes, armes Land wahrnehmen. Das muss man stoppen.
Dennoch: Der Vorwurf der Korruption hat Bestand.
Korruption ist ein Problem, ja. Aber es hat eine jahrhundertealte Tradition. Eine stabile Ordnung mit rechtlichen Verhältnissen gibt es bei uns nicht. Persönliche Verbindungen und Vetternwirtschaften sind für alle günstig und gewöhnlich. Nicht nur auf höchster Ebene des Präsidenten oder des Parlaments, sondern auch auf persönlichem Niveau im Alltag. Das Problem muss man systemisch lösen.
Wie?
Durch Bildung. Unsere Kinder müssen lernen, warum es besser ist, wenn jeder nach dem Gesetz lebt. Wie verhält man sich? Sie müssen ihren eigenen Kindern auch etwas beibringen können. Mein Sohn sagt mittlerweile: „Man darf der Lehrerin keine Blumen schenken. Das ist Korruption.“ (lacht)
Oleksij Savkevych pfeift auf den Krieg
Als im Donbass gebombt wird, fährt Oleksij Savkevych (40) Rad. Heute hilft der Ukrainer Jugendlichen, den Krieg durch Musik zu verarbeiten, und erzählt von pfeifenden Raketen. Ein Porträt.
Oleksij Savkevych wirkt gefasst, fast stoisch. Sein Lächeln ist gewinnend, kommt aber nur wohldosiert zum Einsatz. Er kleidet sich jugendlich: blauer Sakko, weißes Shirt, schwarze Hose und Ohrring. Die tiefen, dunklen Augenringe verraten zweierlei: Savkevych ist Familienvater zweier Kinder und lebt im Krieg – über den er eigentlich nicht sprechen will.
„Ich wollte nicht nach Luxemburg kommen und klagen: ‚Wir sind die armen, armseligen Opfer.‘“ Er übertreibt nicht. Während des gesamten Gesprächs fehlt jede Spur von Hass oder Selbstmitleid bei ihm. Der Wahnsinn ist zur Gewohnheit geworden.
Savkevych stammt aus Awdijiwka, einer Grenzstadt des Kriegsgebiets in der Ostukraine. Der studierte Politologe hat an der Uni im 20 Kilometer entfernten Donezk unterrichtet. Seit dem Krieg arbeitet er von zu Hause aus.
Er erinnert sich noch genau an die ersten Angriffe. Im Juli 2014 wird ein Stützpunkt in der Nähe seines Einfamilienhauses bombardiert. Frau und Kinder sind nicht da. Nur die Schwiegermutter ist bei ihm. Die beiden hören, dass angegriffen wird. „Wir sind in den Keller gelaufen und haben uns versteckt.“
Savkevych glaubt, sein Haus stehe nicht mehr. Die Explosion ist ohrenbetäubend. Nachdem es ruhiger wird, verlässt er den Keller. „Ich habe mein Fahrrad genommen und bin ein wenig herumgefahren.“ Er erzählt das Ganze, als sei die Rede vom autofreien Sonntag. „Ich wollte sehen, was getroffen und wer verletzt wurde.“
Spricht man ihn auf seine Gelassenheit an, schießen die Mundwinkel an den geschlossenen Lippen nach oben. „Ich bin immer ein ruhiger Typ.“ Savkevych muss selbst lachen. Es sei schwer zu erklären. Menschen, die Bombardierungen erlebt hätten, gewöhnten sich daran.
„Pfeift es, schlägt es in der Nähe ein“
„Man wirft sich mit der Familie auf den Boden, bis es vorbei ist.“ Irgendwann habe man den Dreh heraus und höre, wie weit die Bombardierung entfernt sei. „Klingt es stumpf, ist der Angriff weit weg. Pfeift’s, ist er in der Nähe.“
Bis 2015 wird Savkevychs Heimatstadt Awdijiwka nicht stark angegriffen. Ende 2016 ist die Situation lebensgefährlich. Der Ukrainer bewahrt einen kühlen Kopf. Kein Pfeifen, alles in Ordnung: „Das berührt einen nicht mehr so stark. Man hat das Gefühl, der Krieg laufe nebenan.“ Die Menschen lernen zudem schnell: „Wird bombardiert, läuft man am besten nirgendwo hin. Man weiß nicht, wo alles hinfliegt.“
Eines Tages steigt er dennoch erneut aufs Fahrrad. Er will die Schwiegermutter besuchen. Es pfeift. „Ich habe mich hingelegt. Ist die erste Welle zu Ende, muss man eine Weile warten. Das weiß ich heute.“ Damals hat er aber einen anderen Drang in sich. Er läuft weg, will sich verstecken. „Oft ist die Gefahr aber gerade bei der nächsten Welle am größten. Die zweite Bombe kann schneller kommen, als man glaubt.“
Kulturelles Vakuum
Awdijiwka erhält während des Kriegs humanitäre Unterstützung. Als sich die Situation zu stabilisieren beginnt, kommen Musiker in die Stadt. Trotz weiteren Blutvergießens verbessert sich das Leben – wenn auch nur begrenzt. „Es entsteht ein kulturelles Vakuum. Man redet nur von Krieg.“
Die Musiker bringen Savkevych auf eine Idee. Er will ein Festival für Jugendliche organisieren. „Das wirkt den traurigen Ereignissen positiv entgegen, von denen alle reden.“ Rock, Pop, Folk, ukrainische Banduramusik und Tänze sollen die Menschen ablenken. Eine Rock-Schule wird spontan gegründet.
Mithilfe der lokalen Behörden und ein wenig amerikanischer Entwicklungshilfe (3.000 Dollar) wird das Festival organisiert. 2018 werden Bands gegründet. „Zwei von ihnen sind Schüler: Sie trinken nicht, sie rauchen nicht, sie machen nur Musik. Das ist in der Ukraine ungewöhnlich.“ Er lächelt verschmitzt.
Die Idee hinter dem Festival: Menschen in Kriegszeiten zusammenführen. Momentan arbeitet Savkevych daran, Jugendlichen einen Proberaum einzurichten. Das kulturelle Leben soll dadurch während des ganzen Jahrs aufblühen.
„Krieg gibt der Kunst Impulse“
Musik und Krieg funktionieren in Wechselwirkung zueinander: Musik dient in Kriegen als Kommunikationsmittel und als psychologische Waffe, während Krieg mit all seiner Brutalität musikalische Kreativität entfesselt. „Es klingt unglaublich. Ich sehe das nicht nur in Awdijiwka, sondern auch in anderen Städten: Krieg gibt der Kunst Impulse.“
Sprache und ukrainische Kultur träfen bei den Jugendlichen auf Zustimmung. Sie würden sich durch diese vom russischen Okkupanten abgrenzen. Auf die Frage, ob die Musik für nationalistische Zwecke instrumentalisiert werde, antwortet Savkevych: „Im Gegenteil. Wir Ukrainer sind keine Faschisten. Wir werden in den Medien so dargestellt. Die Jugendlichen haben nichts mit dem Militär am Hut.“
Es gebe allerdings faschistische Bewegungen in der Ukraine. „Es handelt sich aber dabei um Politik.“ Man müsse dies klar trennen. Radikale Strömungen hätten versucht, eine kleine Gruppe in Awdijiwka zu bilden. Die Leute seien nicht offen dafür gewesen. „Sie haben einen Marsch anlässlich des Geburtstags von Stepan Bandera (ukrainischer Nationalist, Anm d. Red.) veranstaltet. Das war für uns ungewöhnlich.“
Die größte Herausforderung ist laut Savkevych, Russen und Ukrainer wieder zusammenzuführen. „Es wird schwierig sein, menschlich und emotional wieder zueinander zu finden.“ Er erlebt es in der eigenen Familie. Seine ukrainische Mutter wirft der russischen Tante vor, Russlands Truppen in die Ostukraine geschickt zu haben.
Savkevych verliert kein schlechtes Wort über die russische Bevölkerung. Den Kontakt hat er jedoch abgebrochen. Er redet nur noch mit Russen in seiner Familie. Sobald fremde Ukrainer und Russen sich begegneten, stellten sie sich immer die gleiche stumpfe Frage: „Wie stehst du zum Krieg?“ Die Antwort wird gepfiffen.
EXTRA Der Krieg im Überblick
Russland sieht die Ukraine als sein Einflussgebiet. Es hat militärisch interveniert, als 2014 nach Massenprotesten der prorussische Präsident Viktor Janukowitsch geschasst wurde. Moskau annektierte die ukrainische Halbinsel Krim. Seitdem wird darüber gestritten, ob es sich um einen Bruch des Völkerrechts handelt oder nicht. Der Krieg hat bis heute weitreichende Folgen: Die europäische Friedensordnung wurde in Frage gestellt und die Ukraine als Spielball der Großmächte bei der Verhandlung geopolitischer Fragen instrumentalisiert. Moskau stützt im Donbass prorussische Milizen und Separatisten. Die USA und die EU haben Russland wiederum mit Sanktionen bestraft. Die Minsker Abkommen waren der Versuch, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. Bislang konnte er nur eingedämmt werden. Am Sonntag finden in der Ukraine Präsidentschaftswahlen statt.
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