Die Wissenschaftler am „Luxembourg Institute of Socio-Economic Research“ (Liser) erforschen das Zusammenleben im Großherzogtum. Doch ihre Arbeit wird oft unnötig erschwert, sagt Aline Muller, die Direktorin des Instituts.
Tageblatt: Welche Art der Forschung betreibt das Liser?
Aline Muller: Wir betreiben sozioökonomische Forschung. Am Anfang war unser Schwerpunkt die Ungleichheit in der Gesellschaft. Heute untersuchen wir sozioökonomische Phänomene durch eine ganze Reihe von Disziplinen, darunter die Politologie, Wirtschaft, Geografie, Soziologie und Jura.
Wir beschäftigen uns immer noch mit Ungleichheiten, aber auch generell mit den Lebensbedingungen in Luxemburg und Europa, mit dem Arbeitsmarkt und mit Fragen der Stadtentwicklung und der Mobilität. Wir interessieren uns ebenfalls für die geografische Entwicklung der Bevölkerung und wie sie sich im Laufe der Zeit in der Gesellschaft ausdrückt. Daneben behandeln wir drei interdisziplinäre Themen prioritär: das Gesundheitssystem, die grenzüberschreitende Mobilität und die Digitalisierung.
Wieso hat man diese Wissenschaften alle kombiniert? Warum gibt es kein rein soziologisches Institut?
Wir haben zwei Aufgaben: Zum einen sollen wir Wissen generieren und zum anderen wir einen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen. Für beide Aufgaben ist es vielversprechender, fachübergreifend zu arbeiten. Wenn man eine gesellschaftliche Fragestellung nur durch die Linse einer Wissenschaftsdisziplin betrachtet, erhält man ein falsches Bild. Dadurch ist der Mehrwert, den eine solche Herangehensweise für die Gesellschaft hat, sehr niedrig. Diese multidisziplinäre Herangehensweise gehört zu unserer Identität. Dadurch unterscheiden wir uns zum Beispiel von einer Uni.
Welchen Stellenwert haben Sozialwissenschaften in Luxemburg? Werden sie vernachlässigt?
Ich denke nicht. Ich hoffe es auch nicht, denn ich würde dies für sehr gefährlich halten!
Wenn von Wissenstransfer die Rede ist, ist das Erste, woran man denkt, die Anwendung eines Patentes in der Industrie. Die nicht-wirtschaftlichen Dimensionen des Wissenstransfers darf man aber nicht außer Acht lassen. Ansonsten ist das Risiko groß, dass der Wissenstransfer scheitert. Wenn man versucht, eine neue Technologie einzuführen, und alles andere außer Acht lässt, dann verläuft die Einführung in der Gesellschaft oder in einem Unternehmen nicht optimal.
Daneben gibt es eine ganze Reihe von Themen, die derzeit in Luxemburg breit diskutiert werden. Themen, die das Zusammenleben betreffen. In anderen Ländern beschäftigen sich Institute wie unseres damit, Antworten auf die Arbeitslosigkeit zu finden. In Luxemburg ist unsere Herausforderung, das Wachstum so zu gestalten, dass es wirtschaftlich tragfähig und inklusiv ist. In einer Gesellschaft, die so vielfältig ist wie die unsere, ist das eine Herausforderung.
Sie selbst sind ein sehr internationales Team. Was sind das für Menschen, die hier arbeiten?
Wir kommen aus vielen unterschiedlichen Disziplinen und Ländern – aus Europa und darüber hinaus. Das ist unsere Stärke. Die Forscher wurden einerseits von unserem Projekt und der Tatsache, dass wir einen gesellschaftlichen Mehrwert erzeugen, angelockt, andererseits aber auch vom Forschungsgebiet Luxemburg.
Das Großherzogtum ist ein sehr einzigartiges Laboratorium für Forscher. Es gibt uns die Möglichkeit, eine Reihe von Fragen auf eine sehr avantgardistische Weise zu untersuchen.
Ist das nicht der Albtraum eines Forschers, sich mit solchen Phänomenen zu befassen …
… die man nicht verallgemeinern kann. (lacht) Es stimmt schon, dass vieles in Luxemburg nicht verallgemeinert werden kann. Eine Reihe von Fragen – zum Beispiel zur Migration – kann man hier ganz gut und präzise untersuchen. Mit den Grenzgängern haben wir hier eine Situation, die in Zukunft in ganz Europa zunehmen könnte. Auf verschiedenen Gebieten sind wir anderen sozusagen voraus.
Das Parlament bittet die Regierung öfters um Auskunft zu einem Thema und erhält als Antwort: „Dazu existieren keine Zahlen für Luxemburg.“ Ist Luxemburg tatsächlich ein weißer Fleck auf der Landkarte?
Für uns ist das ein großes Thema. Damit wir für Luxemburg einen Mehrwert erzeugen können, müssen wir natürlich über das Land forschen. Das heißt, dass wir Zugang zum Terrain haben müssen. Die Forscher und Forscherinnen können mit Analysen über Belgien, England, Amerika, Deutschland oder Frankreich nicht dazu beitragen, Reformen in Luxemburg zu unterstützen. Eine Conditio sine qua non ist es, dass wir hier forschen können.
Deshalb muss ein Rahmen für die Forschungsinstitute und -infrastruktur geschaffen werden. Wir haben das Glück, eine gut finanzierte öffentliche Forschungsinfrastruktur in Luxemburg zu haben. Sie hat sich in den letzten Jahren gut entwickelt. Wenn wir aus dieser Investition das Beste herausholen wollen, müssen wir der Forschung die Möglichkeit geben, mit luxemburgischen Daten zu arbeiten. Deshalb brauchen wir Zugang zu diesen Daten.
Was heißt das konkret?
Die Forschung in Luxemburg muss das Recht auf einen Zugang zu Daten erhalten – natürlich im Einklang mit dem Datenschutz. Es kann nicht sein, dass es einfacher für uns ist, auf Daten in anderen Ländern zuzugreifen als auf luxemburgische.
Wieso können Sie diese Daten nicht erhalten?
Erstens ist es in Luxemburg oft schwierig, Daten zu erheben und dabei alle wissenschaftlichen Standards einzuhalten. Zweitens bekommen wir nicht immer Zugang zu existierenden Datenbanken. Wir versuchen, Lösungen zu finden, aber ein allgemeines Recht der Forschung auf Daten wäre von Vorteil. Vor allem ist es schwer, an Daten zu kommen, wenn deren Besitzer nicht der Auftraggeber der Forschung ist. Wir haben zum Beispiel kein Recht, das nationale Personenregister zu benutzen.
Nehmen wir an, es klappt alles, Sie können Daten erheben und Ihre Forschung betreiben. Finden Sie dann mit Ihren Ergebnissen Gehör bei der Politik?
Unsere Aufgabe ist es, die Debatte zu begleiten und Themen hervorzuheben. Dadurch können wir Themen in die Agenda der Entscheider bringen und sie so in einem positiven Sinn beeinflussen. Wir sind aber selber keine Entscheidungsträger.
Wie gehen Sie vor? Normalerweise werden wissenschaftliche Ergebnisse doch in Fachmagazinen veröffentlicht und man muss eine Menge Geld bezahlen, um sie überhaupt lesen zu können.
Bei der altmodischen Methode forschen die Wissenschaftler, publizieren ihre Arbeit und treten dann mit einer vulgarisierten Version an die Presse heran. Um den Wissenstransfer zu optimieren, binden wir die „Stakeholder“ – also die Leute, die betroffen sind – von Anfang an mit ein. Das beginnt bei der Formulierung der Forschungsfrage und geht weiter mit dem eigentlichen Forschungsprojekt.
Binden Sie auch die breite Öffentlichkeit mit ein?
Oft sind es Vertreter der breiten Öffentlichkeit in der Zivilgesellschaft, ja.
Sie gehören nicht zur Universität und trotzdem teilen Sie sich ein Gebäude mit ihr. Gibt es außer der geografischen Nähe noch weitere Verbindungen?
Wir arbeiten eng mit der Uni und den anderen Forschungsinstituten zusammen. Wir organisieren zum Beispiel gemeinsam Workshops. Daneben haben wir eine Reihe von Professoren und Doktoranden, die zur Hälfte an der Uni und zur Hälfte beim Liser arbeiten.
Eine Zusammenarbeit besteht ebenfalls mit den Forschungsinstituten LIH und dem LIST. Wir ergänzen uns auf sehr vielen Gebieten und schaffen durch die Zusammenarbeit viele bedeutende Synergien. Die Tatsache, dass wir hier in Belval alle an einem Ort zusammen sind und uns tagtäglich begegnen und miteinander interagieren können, ist sehr wertvoll. Unsere gemeinsame Identität und unsere Fähigkeit, zusammenzuarbeiten und uns aufeinander abzustimmen, machen unsere Stärke hier in Luxemburg aus.
Das „luxemburgische Modell“ im Forschungsbereich weitergedacht also?
Luxemburg hat die besondere Fähigkeit, sich flexibel, agil und koordiniert weiterzuentwickeln. Das gilt auch für die Forschung. Ich sehe noch viel Potenzial. Wir sind alle erst seit wenigen Jahren hier in Belval und es sollen noch andere hinzukommen. Ich bin guter Dinge, dass sich das Ganze weiterhin positiv entwickeln wird.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können