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Nach militärischem Zwischenfall im Asow-Meer wittert Julia Timoschenko ihre Chance

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Das von Präsident Petro Poroschenko ausgerufene Kriegsrecht kommt zu einem für ihn gelegenen Zeitpunkt. Im März soll in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt werden. Bisher führte seine Rivalin Julia Timoschenko in den Umfragen, doch das könnte sich nun ändern. 

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger

Einen solch großen Streit gab es in der Werchowna Rada schon lange nicht mehr. Stundenlang wurde die Rednertribüne des ukrainischen Einkammerparlaments von Oppositionspolitikern besetzt. Ihnen schloss sich am Nachmittag auch Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko an. Zusammen mit dem Rechtspopulisten Oleg Ljaschko zeterte sie vom Rednerpult gegen Staatspräsident Petro Poroschenko und blockierte die Parlamentsarbeit. Die Abgeordneten sollten über die höchst umstrittene Verhängung des Kriegsrechts befinden. Poroschenko hatte mit seinem überraschenden Gesetzesentwurf auch seine eigene Fraktion in Aufruhr versetzt.

Provoziert hatte den Gesetzentwurf die russische Kriegsmarine. Sie stoppte am Sonntagabend rabiat drei ukrainische Kriegsschiffe beim Versuch, an der besetzten Halbinsel Krim vorbei durch die Meerenge von Kertsch ins ukrainisch-russische Asow-Meer zu geraten. Dabei kam es zu einem Scharmützel, dessen Hergang von beiden Seiten unterschiedlich geschildert wird. Laut russischen Geheimdienstangaben war Moskau nicht über die Route informiert und damit die russische Souveränität verletzt worden. Kiew wiederum will die Reise der drei Schiffe angemeldet, jedoch keine russische Reaktion erhalten haben. Südlich der neuen russischen Autobahnbrücke über die besagte Meerenge sei ein Schiff beschossen und gerammt worden, hieß es in Kiew.

Beim Beschuss wurden laut übereinstimmenden Angaben mindestens drei Matrosen verletzt. Die drei kleinen ukrainischen Kriegsschiffe wurden von den Russen geentert und in den Hafen von Kertsch abgeschleppt. Die gesamte rund 25-köpfige Besatzung der drei Schiffe befindet sich seitdem auf der von Russland völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Halbinsel Krim in Haft. «Wir bewerten diesen Vorfall als Kriegserklärung», sagt der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin.

Verhängung des Kriegsrechts

Noch in der Nacht zum Montag trat der Nationale Sicherheitsrat der Ukraine zusammen. Dabei wurde beschlossen, die Armee mit der Verhängung eines Kriegsrechts zu stärken, ein höchst umstrittenes Vorgehen. Doch bis zum Mittag wurde ein Kriegsrechtsbeschluss ausgearbeitet und von Poroschenko sofort unterschrieben. Er sieht eine Teilmobilmachung und eine auf 60 Tage beschränkte Begrenzung der bürgerlichen Freiheiten vor. So soll die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit eingeschränkt und eine Polizeistunde eingeführt werden. Der Verkauf von Alkohol wird weitgehend unterbunden, und unter gewissen Bedingungen kann Privateigentum enteignet werden.

Damit das Kriegsrecht in Kraft tritt, braucht der Staatspräsident in der Ukraine jedoch die Zustimmung des Parlaments. «Eine Generalmobilmachung ist nicht vorgesehen, und die Präsidentschaftswahlen Ende März sind nicht gefährdet», beruhigte deshalb der Präsident. Genau Letzteres aber wird indes von der Opposition befürchtet. Anfang Januar beginnt offiziell der Präsidentschaftswahlkampf. Unter Kriegsrecht könne von einem fairen Wahlkampf keine Rede sein, warnten in Kiew gleich mehrere Politologen. Diese Tatsache kann vor allem Poroschenko helfen. In den Umfragen führt nämlich seit Monaten Julia Timoschenko. Mit einem linkspopulistischen Programm ködert sie vor allem Rentner und ärmere Schichten unter den Preiserhöhungen ächzenden Ukrainern. Nach dem kürzlichen Eintritt eines Feldkommandanten der Donbass-Front in den Präsidentschaftswahlkampf ist Poroschenko mittlerweile in der Wählergunst auf den dritten Platz abgerutscht. Seine Chancen auf eine zweite Amtszeit waren noch nie so schlecht wie gerade jetzt.

Russland fühlt sich provoziert

In dieser Situation kommen Poroschenko neue Spannungen mit Russland nicht ungelegen. Seinen letzten Wahlkampf hatte er 2014 mit markigen Sprüchen eines Sieges gegen die prorussischen Separatisten im Donbass bereits in der ersten Runde für sich entschieden. Der amtierende Präsident könnte deshalb versucht sein, sein Volk dank eines neuen Konflikts noch einmal hinter sich zu scharen. Auch für Putin kommt der Konflikt im Asow-Meer gleich neben der Krim wie gerufen. Moskau hatte Zusammenstöße mit einer Verlegung seiner Kriegsmarine zu beiden Seiten der Meerenge von Kertsch seit Sommer provoziert. Die EU ist schwach und mit sich selbst beschäftigt; sowohl Angela Merkel wie Teresa May wurden in den vergangenen Wochen merklich geschwächt. Bisher hatten vor allem Deutschland und Großbritannien in Brüssel für ein hartes Vorgehen gegenüber Russland geworben.

Auf einen echten Schlagabtausch mit Russland kann sich die kleine ukrainische Kriegsmarine indes nicht einlassen. Sie würde ihn sofort verlieren. Nicht zuletzt deshalb ist der Panzerkreuzer «Gurza-M» ohne Bordkanone vor der Brücke auf die Krim geschwommen. Eine feindliche Absicht hatte er nicht. Zusammen mit einem Bugsierer und dem später beschossenen Artillerieboot «Berdjansk» wollte er einfach in den neuen Marinestützpunkt in der gleichnamigen ukrainischen Hafenstadt schwimmen. Dass damit die Russen provoziert werden, war indes voraussehbar. Das ukrainische Parlament hat am Abend der Verhängung eines auf 30 Tage heruntergestutzten Kriegsrechts zugestimmt. Der eilends einberufene UNO-Sicherheitsrat diskutierte bei Redaktionsschluss noch. In Moskau rief Außenminister Lawrow Kiew und ihre westlichen Verbündeten zynisch zur Deeskalation auf.