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Eine Frage der politischen Identität

Eine Frage der politischen Identität

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Die nächsten Wochen werden für die LSAP spannend, unruhig, aber auch wegweisend sein. Zuerst werden die LSAP-Mitglieder klären müssen, ob das vorgeschlagene Regierungsprogramm aus sozialistischer Sicht genug hergibt für eine neue Auflage von „Gambia“, so die „LSAP-Linke“.

Von Nando Pasqualoni und Nico Wennmacher

Dann müssen parteiinterne Reformen in Angriff genommen werden, um die Partei auf die kommenden Jahrzehnte vorzubereiten. Im Mai 2019 stehen die Europawahlen vor der Tür und die Sozialisten werden das katastrophale europäische Geschehen der letzten Jahre kritisch bewerten müssen.

Die Frage, ob die LSAP eine linke, fortschrittliche Partei ist, beantworten die meisten ihrer Mitglieder mit einem deutlichen Ja – und zu gesellschaftspolitischen Themen gibt es kaum Meinungsverschiedenheiten. Auf der Ebene der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden jedoch unterschiedliche Politikansätze sehr deutlich. In der LSAP geht hier der Spannbogen von klassischen wirtschaftsliberalen Positionen bis hin zu Ansichten, dass eine entscheidende staatliche Präsenz notwendig ist.

Die wirtschaftsliberalen Exponenten setzen mit ihren Ansichten auf die stärkere Liberalisierung der Märkte. Ihrem Credo nach gilt es, mit weniger Regeln die Attraktivität für Investoren zu fördern, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu stärken, die Produktivität in den Betrieben zu steigern. Das setzt voraus, dass für die Unternehmer vor allem ein freundliches Investitionsklima geschaffen werden muss. Die Politik soll sich mit einem Minimum an Regeln aus der Wirtschaft heraushalten.

Übrigens: Zurzeit ist dies auch die vorherrschende Haltung der meisten europäischen Regierungen. Aus diesen Grundüberzeugungen erarbeiten Liberalsozialisten ihre politischen Strategien. Die Reformen von Tony Blair und Gerhard Schröder entsprachen diesen politischen Ansichten und heute sieht sich Emmanuel Macron auch in dieser politischen Linie.

Nicht mehrheitsfähig

Allerdings behauptet Macron, er sei „weder rechts noch links“. In der LSAP sind solche wirtschaftsfreundliche Haltungen nicht mehrheitsfähig. Die Liberalen der LSAP sind Realisten und Pragmatiker. Aus taktischen Erwägungen sind sie in parteiinternen Debatten sehr kompromissbereit und stimmen auch „linkslastigen“ Programmen zu, die nicht unbedingt ihrer Überzeugung entsprechen. So kamen sowohl der sozialistische Leitfaden 2016 als auch das Wahlprogramm 2018 ohne viele liberale Einwände zustande.

Manchmal kommen aus der liberalen Ecke Testballons – so zum Beispiel anlehnend an den damals erfolgreichen Macron ein Radiokommentar, der da lautete: Auch bei uns gäbe es viele Menschen, die sich weder für linke noch für rechte Politik interessieren würden, aber Interesse an einer kompetenten, sachbezogenen Politik hätten, und das würde man richtig finden.

Der Hype um Jeremy Rifkin kommt auch aus der liberalen Ecke. Jeremy Rifkin ist grenzenlos technikgläubig und für ihn spielen soziale Ungerechtigkeiten eine untergeordnete Rolle. Laut ihm hängt die Zukunft vor allem von neuen Technologien ab. Die politische Auseinandersetzung um die gerechte Umverteilung der immensen Produktionszuwächse ist für ihn eine „quantité négligeable“. Und das passt wiederum in ein liberales Weltbild.

Die meisten Mitglieder der LSAP sehen schon die Notwendigkeit, dass die Politik und der Staat der Macht der ungebändigten Kräfte der freien Wirtschaft einen legalen Rahmen setzen müssen. Es besteht ein Konsens, dass es einen wirtschaftlichen Wettbewerb ohne Regeln nicht geben kann, dass die Lohnabhängigen nicht der Unternehmerwillkür ausgesetzt sind, dass die Umwelt von schädlichen Produkten und Produktionsweisen geschützt werden muss.

Ihre unterschiedlichen Standpunkte in der LSAP sind oft eher gradueller Natur. Die Debatte unter Sozialisten verläuft dann entlang einer Linie, die sich danach orientiert, welche gesetzlichen Regeln sinnvoll sind, um sozialistische Politik zu gestalten.

Sozialistische Identität

Heute stehen die Mitglieder der LSAP an einem Scheideweg. Bleibt die LSAP mittelfristig eine Programmpartei mit eigenen politischen Werten oder degeneriert sie zu einem Wahlverein, der von Wahl zu Wahl dem jeweiligen Zeitgeist hinterherhuscht, um eine(n) lokale(n) oder nationale(n) profilarme(n), aber gut geföhnte(n) Kandidaten/Kandidatin in ein politisches Mandat zu hieven?

Gegen Ungerechtigkeit

Die LSAP ist eine Partei, bei der die Frage der sozialistischen Identität einen sehr hohen Stellenwert hat. In ihrer Geschichte ist ihre politische Identität mit dem Kampf gegen schreiende Ungerechtigkeiten eng verwurzelt. In der Auseinandersetzung um soziale Gerechtigkeit, um Emanzipation in einer vom Standesdünkel geprägten Klassen- und Religionsgesellschaft entwickelten die Sozialisten eine starke eigene Identität, die auf den Werten der Solidarität, der Freiheit, des Fortschritts und der Gerechtigkeit basiert.

Diese Wertvorstellungen sind die Grundlage ihrer politischen Identität. Über den Zeitraum eines Jahrhunderts haben die Sozialisten durch ihr Engagement unsere Gesellschaft verändert. Die Sozialisten haben maßgeblich einen demokratischen Sozialstaat mitgestaltet, der Wohlstand und soziale Kohäsion ermöglichte. Dieses ermöglichte auch, dass sich Generationen von Ausländern ohne große Probleme in Luxemburg integrierten.
Zum Kern der politischen Identität der Sozialisten gehört der Schutz und Ausbau des demokratischen Sozialstaats. Die Grundlagen des Sozialstaates wurden gelegt mit den öffentlichen Sozialversicherungen – also den Kranken- und Pensionskassen sowie den Unfall- und Pflegeversicherungen. Doch zu einem modernen und starken Sozialstaat gehören nicht nur die Sozialleistungen.

Der umfassende Sozialstaat muss transversal in vielen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen organisiert werden. Er muss jedem Bürger unabhängig vom Einkommen gewährleisten, dass öffentliche Dienstleistungen von hoher Qualität in den Bereichen Transport, Gesundheitsfürsorge, Bildung und Justiz angeboten werden. Der demokratische Sozialstaat muss den Schutz der Umwelt aus einer sozialgerechten Perspektive integrieren. Um von den Menschen getragen zu werden, muss eine wirksame Umweltpolitik unbedingt auch ihrer sozialen Situation Rechnung tragen.

Die zentrale Frage für die LSAP-Mitglieder ist es, unter den heutigen Bedingungen ihre politische Identität neu zu definieren und an die Realitäten anzupassen. Öffentliche Dienste dürfen nicht nach reiner Profitlogik privatisiert werden, weil dies eine sehr starke finanzielle Belastung für den Normalbürger nach sich ziehen würde.

Zurzeit gebärden sich die Mächtigen der Welt wie pubertierende Halbstarke auf dem Schulhof. Leider verfügen sie über militärische Potenziale, mit denen sie die Welt mehrfach zerstören können. Die Frage einer künftigen Organisation unserer kollektiven Sicherheit wird zu einer politischen Priorität.

Der demokratische Sozialstaat ist ein Instrument, um die wachsenden sozialen Ungleichheiten zu reduzieren und die Gesellschaft gerechter zu gestalten. Er ist eine Voraussetzung, um einen sozialen Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft abzusichern und dadurch den nationalistischen und rechtsextremen Bewegungen Einhalt zu gebieten.

Es stellt sich dann auch die Frage, wie das finanziert werden soll. Können wir uns diesen Sozialstaat leisten? Die umgekehrte Frage muss dann aber auch zulässig sein – wie viele soziale Ungleichheiten kann unsere Gesellschaft ertragen? Welches Ausmaß an Leid, Verzweiflung und Ausweglosigkeit lässt unsere Gesellschaft zu? Andersrum: Wie viele Reiche und Superreiche kann sich eine demokratische Gesellschaft leisten? Das Vermögen der Besitzenden entsteht eben nur durch die Ausbeutung der Menschen, die durch Arbeit ihr Brot verdienen müssen.

Der politische Ansatz ist es nicht, den Reichen ihr Hab und Gut wegzunehmen – aber es ist im Interesse unserer ganzen Gesellschaft, dass der geschaffene Reichtum gerechter verteilt wird. Die Sozialisten müssen neue Wege zu einer gerechteren Fiskalität entwerfen. Eine stärkere Besteuerung der Kapitalerträge, eine Finanztransaktions- und eine Robotersteuer sind geeignete Mittel, um die Finanzierung des Sozialstaats abzusichern. Dies ist auch eine Voraussetzung, um die vor uns liegenden technologischen Revolutionen zu meistern.
30 Jahre Neoliberalismus haben tiefe Spuren hinterlassen. Der Traum vom „geeinten Europa“ wurde für viele Menschen zum Albtraum und wird als bedrohlich empfunden. Das Versprechen an die Völker Europas, einen Kontinent des Wohlstands und des Friedens zu schaffen, wurde nicht gehalten. Die europäische Gemeinschaft vertritt die Belange der Wirtschaft, der Finanzen, der Banken und der Lobbys.

Bei den Europawahlen 2019 ist zu befürchten, dass die Ablehnung Europas vor allem nationalistischen Kräften Auftrieb geben wird. Auch die europäischen Sozialisten müssen sich von der deutschen Merkel/Schäuble-Linie lossagen und diese Politik einer kritischen Bestandsaufnahme unterziehen.

Die aktuelle EU-Politik, in der Deutschland das europäische Geschehen auf Kosten der anderen dominiert, wird in einer katastrophalen Sackgasse enden. Aber auch viele europäische Sozialisten/Sozialdemokraten halten weiterhin an den wirtschaftsliberalen Konzepten aus der Blair/Schröder-Periode fest. Auf dieser Ebene ist es wichtig, den Widerstand gegen die vielfältigen Formen der Austerität aufzubauen und nicht im Gleichschritt mit den Nachfolgern von Kanzlerin Merkel zu gehen.

Die LSAP hat keinen Generationskonflikt – ihre Kernaufgabe wird es sein, die Frage nach ihrer politischen Daseinsberechtigung zu klären. Die LSAP muss Antworten suchen auf Fragen wie: Was bedeutet es heute, Sozialist zu sein? Mit welchen politischen Ideen können wir, in einem politisch hyper-individualisierten Umfeld, Menschen überzeugen, dass Egoismus in dramatische Sackgassen führt? Es wird auf alle diese komplexen Themen keine einfachen Antworten geben.

Die Art und Weise, wie zurzeit politisch Verantwortliche öffentlich Streit um Posten führen und zeitgleich erklären, es würde nicht um Personen gehen, sondern die Interessen der LSAP würden im Vordergrund stehen, können weder die Wähler noch die Parteimitglieder verstehen. Das ruft zurzeit nur Kopfschütteln hervor!

In den kommenden Wochen und Monaten wird es in der LSAP nicht genügen, nur die Verpackung zu debattieren.

Mitunterzeichner: Georges Anzil, Laurent Boquet, Dan Cao, Philippe Da Silva, Marco Goelhausen, Armand Drews, Mike Hansen, Emanuel Kamura, Ercole Marinangeli, Serge Molitor, Danilo Ontano, Jean Regenwetter, Louis Robert, Gino Pasqualonie, Joëlle Pizzaferri, Sacha Pulli, Jo Schroeder, Christian Sikorwski, Fabio Spirinelli, Jimmy Skenderovic, Vera Spautz, Jacquie Weber, Norbert Wennmacher

 

Grober J-P.
16. November 2018 - 11.21

Soziale Gerechtigkeit ist der Oberbegriff, auch für die LSAP. Leider kann sie das nicht mehr. Die leitenden Herren sind zu wohlgenährt. Dann noch die Blairs und Schroeders hier anführen, was haben die denn dafür getan. Seit deren Amtszeit klafft die berühmte "Schere" immer weiter auseinander. Folgen sind ja überall sichtbar. Fürchte, dass es bald "knallen" wird.

roger wohlfart
16. November 2018 - 9.24

Wenn die LSAP jetzt, nach dieser Wahlschlappe, nicht zurück zu ihrer Identität findet, ist ihr nicht mehr zu helfen .
Dann kann sie demnächst mit der LASEP koalieren, so die will!