Am Samstagabend nah am Martinstag sind Dutzende von Frauen, Männern und Kindern aus Vianden und Umgebung mit brennenden Fackeln durch das Städtchen gezogen – Lieder singend, deren Inhalt sich Außenstehenden nicht gleich erschließt. Das Ritual erfüllt auch die Funktion, die lokale Identität der Ortsgemeinschaft zu festigen. Allerdings sollte das nicht auf Kosten von ethnischen oder religiösen Minderheiten geschehen. Deshalb wurde ein antisemitischer Vers in den vergangenen Jahren gestrichen.
Der Brauch soll bis ins Mittelalter zurückreichen, manche meinen sogar, er sei keltischen Ursprungs. Laut dem Viandener Historiker Jean Milmeister könnte es sich um eine Art Erntedankfest handeln, das nicht zufällig mit dem Martinstag zusammenfällt, der in vielen Regionen Europas als Ende des bäuerlichen Wirtschaftsjahres gefeiert wird. Dieses Fest soll laut Milmeister im Mittelalter auch in anderen Grenzstädten wie Echternach, Grevenmacher und Remich begangen worden sein, doch nur in Vianden habe es bis heute überlebt. Inszeniert wird es als eine Art Gefecht zwischen der «Ënnichtgaass» östlich und der «Iewischtgaass» westlich der Our, die beide voneinander behaupten «am Oosch» zu sein.
An zwei gegenüberliegenden Hügeln werden Tannen mit Brennmaterial angezündet, die die Teilnehmer zuvor errichtet haben. Mit einem lauten Knall wird auf beiden Seiten der Umzug eingeleitet. Mit Fackeln aus in Rohöl getränkten Lumpen, die in einem Käfig aus Maschendraht eingeschlossen sind und an einer Leine geführt werden, ziehen die Viandener von ihrem jeweiligen Hügel aus ins Tal, wo sich beide Gruppen vereinen, um dann geschlossen durch den Ortskern zu marschieren. Dabei wirbeln sie ihre Fackeln durch die Luft und schlagen sie fest auf den Boden.
Die Effekte, die in der Dunkelheit der Nacht entstehen, sind beeindruckend. Das ganze Ritual mutet sehr archaisch und bisweilen militaristisch an. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass manche Teilnehmer im Flecktarnmuster gekleidet sind und die meisten ihr Gesicht mit Tarnfarbe bemalen oder mit einem Schal vermummen.
Diskussion über Antisemitismus
Viel diskutiert wurde in den vergangenen Jahren über die Gesänge des «Miertchen». Insbesondere der Reim «Ho, ho, ho. Der Judd, der lag im Stroh. Das Stroh fing an zu brennen. Der Judd fing an zu rennen. Ho, ho, ho» hatte 2013 die DP-Abgeordnete Corinne Cahen auf den Plan gerufen. Sie hatte ein Video des «Miertchen» gesehen und daraufhin eine parlamentarische Anfrage an den Premierminister Xavier Bettel gestellt, in der sie wissen wollte, ob das Lied gegen das Gesetz verstoße. Infolgedessen entbrannte eine Diskussion über den antisemitischen Charakter dieses Reimes. Der Autor Guy Rewenig forderte in einem Beitrag im d’Lëtzebuerger Land den Verbot des Liedes.
Auch der Kulturhistoriker Guy Schons unterstrich 2013 in einem Facebook-Eintrag den antisemitischen Inhalt des Textes und brach mit der gängigen Darstellung der historischen Kontinuität des Festes, indem er darauf hinwies, dass viele Martinsfeiern Ende des 18. Jahrhunderts abgeschafft worden seien, um dann im 19. Jahrhundert entweder aus Traditionsbewusstsein oder aus lukrativen Gründen wieder neu eingeführt zu werden. Schons stellte auch einen indirekten Bezug zu ähnlichen Liedern her, die im nationalsozialistischen Gau Westmark gesungen worden seien.
In Vianden selbst tat man sich zum Teil schwer damit, den antisemitischen Hintergrund des Liedes zu erkennen. Zwar empfing der damalige Bürgermeister Marc Schaefer Vertreter des «Consistoire israélite de Luxembourg» und versicherte, dass das Lied nicht mehr gesungen werde, doch zugleich wurde von mehreren Parteien darauf hingewiesen, dass die Stadt Vianden keinen direkten Einfluss darauf nehmen könne, weil das Fest nicht von der Gemeinde, sondern von den Bürgern selbst organisiert wird.
Auch wird man in Vianden nicht müde zu betonen, dass es sich bei dem «Judd» um eine konkrete Person gehandelt habe und man daher nicht die Juden im Allgemeinen visiere. Genauso gut hätte man den Spottreim auf den Küster, den Pfaffen, den Jupp oder den Metzger anwenden können, «wenn einem die betreffende Person nicht passte», schreibt Milmeister. Diese Ansicht wird auch heute noch von einigen Viandenern geteilt. Sie verfehlt aber den Kern des Problems, das eigentlich darin besteht, eine Person auf ihre kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit zu reduzieren. Wenn der «Judd» ein fahrender Händler gewesen sein soll, wie bisweilen vermutet wird, wieso nannte man ihn dann «Judd» und nicht etwa «Händler». Ferner verlangt der historische Kontext der Judenverfolgung, dass das Lied längst tabu sein sollte.
So hat die Mehrheit der Teilnehmer am «Miertchen» auch mittlerweile beschlossen, den Reim nicht mehr zu singen. Nur einige Unbelehrbare stimmen das Lied heute noch an. Wenn sie jedoch merken, dass niemand in ihre Gesänge mit einstimmt, lassen sie es sein. Schon alleine der Vers «Ho, ho, ho» ist zur Provokation geworden.
Eingeweihte und Außenstehende
Tatsächlich sind die anderen Reime schon spektakulär genug, auch wenn ihre Bedeutung häufig im Verborgenen der Geschichte liegt. Die Viandener, die meist selbst nicht mehr wissen, auf was oder wen sich die Texte eigentlich genau beziehen, üben sich gerne in Geheimnistuerei, wenn es um ihr «Miertchen» geht. Das macht die Veranstaltung nicht nur spannender und unterhaltsamer, sondern verleiht ihr auch einen «mystischen» Charakter, der die Welt in Eingeweihte und Außenstehende teilt. Einen Zustand, den die Einwohner der Tourismusstadt Vianden ohnehin schon bestens kennen.
Demzufolge erfüllt das «Miertchen»-Ritual auch die Funktion, die lokale Identität der Ortsgemeinschaft zu festigen, indem sie alljährlich den Bezug zu einer nicht näher bestimmten «Urzeit» und einer vermeintlich geteilten Geschichte erneuert.
Die Antisemitismus-Diskussion von 2013 hat aber sicherlich mit dazu beigetragen, dass sich wieder mehr «Auswärtige» für das «Miertchen» interessieren. Auch wenn das Fest nicht mit Veranstaltungen wie dem «Nëssmoort» mithalten kann, hatten sich am vergangen Samstag Touristen aus Luxemburg, Belgien, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden in Vianden eingefunden. Viele von ihnen wohnten dem 30-minütigen Spektakel in der «neutralen Zone» zwischen «Ënnichtgaass» und «Iewischtgaass» auf der Our-Brücke bei.
Nachdem die von Rauch und Benzingeruch durchsetzte Luft aus dem Tal entwichen ist, wird in den Gaststätten und Hotels des Städtchens noch bis spät in die Nacht gefeiert. Für Einheimische und Besucher gleichermaßen bietet das «Miertchen» auch die Gelegenheit, sich einmal ordentlich zu betrinken. Denn die Vorbereitungen beginnen schon am Mittag und nicht später als am frühen Abend fließt das Bier bereits in Strömen.
Für die Sicherheit beim Umzug sorgt die Viandener Feuerwehr. Sie passt darauf auf, dass wegen des nicht mehr ganz nüchternen Zustands mancher Teilnehmer niemand verbrennt. Doch zur Legende des «Miertchen» gehört auch, dass jeder richtige «Veiner» schon mindestens einmal Feuer gefangen hat.
Die antisemitische Einstellung der tiefkatholischen Bevölkerung Luxemburgs war evident , noch zu meiner Schulzeit." Sie hunn eiser Här gekreizegt "lautete eine ebenso böswillige wie falsche aber gern verbreitete Behauptung. Was die ominösen 30er Jahre betrifft gibt es fast keine Zeitzeugen mehr.
Fahnen,Fackeln,Uniformen,Lieder.....alles zur Festigung der lokalen(nationalen) Identität.
Was ist denn eigentlich lokale Identität? Ich lebte 30 Jahre an der Mosel,10 in der Hauptstadt,20 an der Sauer.
Jetzt lebe ich in Frankreich und fühle mich noch immer wohl. Stimmt mit mir etwas nicht?