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Politisches Erdbeben in Lettland: Trotz Politikverdrossenheit reicht es nicht für prorussischen Premier

Politisches Erdbeben in Lettland: Trotz Politikverdrossenheit reicht es nicht für prorussischen Premier
Vjaceslavs Dombrovskis, Kandidat der Partei „Harmonie“ für das Premierministeramt, am Samstag bei der Stimmabgabe

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Nach Auszählung von über 99 Prozent der Stimmen haben in Lettland am Samstag die einer prorussischen Regierungskoalition nicht abgeneigten Kräfte die absolute Mehrheit um einen Sitz verpasst.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Warschau

Wahlsiegerin wurde zwar die russlandfreundliche Partei «Harmonie». Sie sichert sich mit 19,9 Prozent der Stimmen 24 von 100 Abgeordneten. Aus dem Stand auf den zweiten Platz kam mit 14,1 Prozent (15 Sitze) die populistische Newcomer-Partei «Wem gehört der Staat?» (KPV) des Schauspielers Artuss Kaimins, der von vielen als der lettische Donald Trump bezeichnet wird. Das 38-jährige Enfant terrible der lettischen Politik hatte eine Koalition mit «Harmonie» nicht ausgeschlossen.

Auf regionaler Ebene mit den Russlandfreunden koalieren bereits die bisher mitregierenden «Grünen und Bauern» (ZZS), die am Samstag allerdings die Hälfte ihrer Wählerstimmen verloren und auf zehn Prozent (elf Sitze) absackten. Gleich hinter Russlandfreunden und Populisten platzierten sich jedoch zwei EU-freundliche neue Rechtsparteien, die beide wesentlich besser abschnitten als erwartet. Die «Neuen Konservativen» kamen auf 13,6 Prozent (16 Sitze), die liberale Bewegung «Für den Fortschritt/Dafür!» auf zwölf Prozent (13 Sitze). Gut schlug sich mit elf Prozent (13 Sitze) auch die «Nationale Allianz». Mit der «Neuen Union» konnte schließlich auch das vor zwei Jahren zerfallene konservative Regierungslager überraschend die Fünfprozenthürde überspringen. Die Wahlbeteiligung lag bei niedrigen 54,6 Prozent.

Premierminister Maris Kucinskis («Grüne und Bauern») kündigte in der Nacht zum gestrigen Sonntag an, trotz der Niederlage seiner Partei nun doch eine Neuauflage der bisherigen konservativen Regierungskoalition anzustreben. Damit scheint ein prorussischer Regierungschef abgewendet.

Niemand will mit «Harmonie» kooperieren

Vor den Wahlen sah es aufgrund der Umfragen so aus, als stünde Lettland kurz davor, als erste Baltenrepublik nach dem Zerfall der Sowjetunion künftig von einer prorussischen Partei bestimmt zu werden. Schuld daran sei die große Politikverdrossenheit, die eine aggressive Anti-Establishment-Partei wie die KPV nach oben bringe, hieß es unter Politologen in Riga.

Dass dies ausgerechnet im Baltikum möglich ist, das fast 50 Jahre unter der sowjetischen Besatzung gelitten hat, hat jedoch viel mit den Eigenheiten Lettlands zu tun. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es dort auf Stalins Geheiß zu einem Bevölkerungsaustausch. Letten wurden massenweise und gewaltsam nach Sibirien verfrachtet, Russen in Lettland angesiedelt. In Riga und an der weißrussischen Grenze sind die Russen noch heute in der Mehrheit, landesweit spricht jeder dritte Einwohner russisch. Viele haben seit dem EU-Beitritt von 2004 eine Doppelidentität; sie fühlen sich als Russen und Letten zugleich.
Doch über die Hälfte von ihnen schauen russisches Fernsehen und damit Putins Propaganda, jeder Fünfte hat überhaupt keinen kulturellen Kontakt mit Letten. Ihre politische Heimat ist die linke Partei «Harmonie», die seit ihrer Gründung 2010 jede Parlamentswahl gewonnen hat.

Eine Regierung konnte «Harmonie» jedoch noch nie bilden, denn keine der von den Letten gewählten Parteien ist zu einer Kooperation bereit. Im Wahlkampf hatte «Harmonie» ihre prorussische Rhetorik zurückgenommen und mit Vjaceslavs Dombrovskis einen ehemaligen lettischen Parteipolitiker der Mitte als Kandidat für das Premierministeramt gewonnen. Dieser gab sich im Wahlkampf als EU-freundlicher Sozialdemokrat. Das verhalf «Harmonie» zwar wieder zum Wahlsieg, doch eine Regierungsbeteiligung sichert es ihr nun erneut nicht.