Blau-Rot-Grün trat mit dem Versprechen an, «die Fenster groß aufzureißen» und frischen Wind ins Land zu lassen. Vor gut 40 Jahren hatte Luxemburg bereits eine Regierung ohne CSV, die mit dem gleichen Bild der offenen Fenster in Verbindung gebracht wird. Wir suchten nach Parallelen und nach Unterschieden.
Allzu viele Zeitzeugen, die eng an der Regierung Thorn/Vouel/Berg arbeiteten, gibt es nicht mehr. Robert Goebbels, früherer Minister und Europaabgeordneter, ist so einer. 1974 war er – in damals noch möglicher Personalunion – Generalsekretär der LSAP und … Tageblatt-Journalist. Er arbeitete am Regierungsprogramm mit und konnte uns somit Einblicke aus erster Hand über die Atmosphäre in der Post-Mai-68-Zeit, aber auch über politische Hintergründe liefern.
Keine Meinungsforschung
Manches sei vergleichbar, vieles aber auch nicht, so Goebbels, der auch heute noch viel beschäftigt ist; einen Termin mit ihm auszumachen, war nicht so einfach …
Zu Beginn des Gespräches wollten wir Näheres über die der damaligen Wahl vorausgehende Atmosphäre wissen. Es gab damals, im Gegensatz zu heute, so unser Gesprächspartner, keine Meinungsumfragen in Luxemburg. Die Nachwirkungen von Mai 68 waren auch hierzulande spürbar, die LSAP hatte eine Spaltung hinter sich (die SDP war entstanden), erste ökologische Tendenzen machten sich bemerkbar.
Niemand konnte voraussagen, wie sich die politische Landschaft am Wahlabend des 26. Mai 1974 verändern sollte. Die CSV, die seit Kriegsende an der Spitze der nationalen Regierungen gestanden hatte, trat unter Staatsminister Pierre Werner an. Am Wahlabend – die Spitzenpolitiker hatten sich in der Villa Louvigny bei Radio Lëtzebuerg versammelt – herrschte bei der Bekanntgabe der Resultate, so Robert Goebbels, «große Konfusion»: Es sei ein Abend voller Überraschungen gewesen, so nicht vorhersehbar …
Orientierungslosigkeit nach der Wahl
Die Orientierungslosigkeit hielt angesichts der unerwarteten Ergebnisse an – die CSV verlor drei Sitze (29,9 Prozent), die LSAP konnte trotz Spaltung die Verluste in Grenzen halten und musste nur einen Sitz abgeben, während die SDP mit fünf Abgeordneten ins Parlament einzog und die DP mit drei zusätzlichen Mandaten und 23,3 Prozent der Stimmen klarer Wahlsieger war – bis der damalige Wort-Direktor Abbé Heiderscheid erklärte, die CSV müsse angesichts des Wahlausgangs in die Opposition. Pierre Werner schloss sich der Aussage an, der Weg war frei für eine rot-blaue Regierung mit Gaston Thorn als Premier an der Spitze.
Werner habe an dem Abend offensichtlich «d’Flemm» gehabt. Richtige Klarheit über die künftige Regierung habe allerdings erst am Montag nach der Wahl geherrscht. Goebbels kam seiner journalistischen Pflicht nach und befragte u.a. Thorn nach den weiteren Plänen. Dieser habe ihn daraufhin regelrecht in sein Büro beordert, um ihm mitzuteilen, er werde Premier einer künftigen Regierung.
Der weltgewandte Politiker, der sich als Außenminister bereits einen Namen gemacht hatte, ein brillanter Redner war und besonders in französischer Sprache (die damals im Parlament gesprochen wurde) ziemlich jedem überlegen war, wurde, obwohl er nicht die stärkste Partei vertrat – ähnlich wie Bettel, der den Posten trotz mehr Stimmen für die LSAP erhielt – Premierminister einer Regierung, die gleich zu Beginn der Legislatur von der Stahlkrise kalt erwischt wurde.
Fünfte Urlaubswoche in der Krise
Während die aktuelle Regierung Luxemburgs also u.a. durch die Geheimdienstaffäre und die Arroganz (so Goebbels), mit der Jean-Claude Juncker die parlamentarische Untersuchungskommission behandelt hatte, in der Bodry, Bausch, Bettel und Braz «zusammenwachsen» konnten, entstand, war die Ausgangssituation 1974 eine komplett andere.
Thorn war ein Premier, so Goebbels, der nicht den autoritären Führungsstil von Juncker besaß, aber dennoch die Richtung stärker vorgab als Bettel. Er akzeptierte die sozialen Ideen der Sozialdemokraten, die trotz der eben oben erwähnten Stahlkrise (damals arbeiteten noch 30.000 Menschen in der Eisenindustrie und die Produktion sank um dramatische 50 Prozent) zahlreiche Fortschritte für die arbeitenden Menschen verlangten und erreichten.
So wurden die fünfte Urlaubswoche und die 40-Stunden-Woche gesetzlich festgeschrieben, zehn Feiertage wurden garantiert, es gab Verbesserungen bei den Renten, das Kindergeld wurde erhöht, der Index für alle Arbeitnehmer wurde eingeführt (vorher galt er nur für den öffentlichen Dienst), dies während einer Periode mit bis zu vier Indextranchen im Jahr und einer Inflationsrate um die zehn Prozent.
Die soziale Notlage wurde mit der Einführung des Kriseninstrumentes Tripartite, der Frühpensionierung («Préretraite») und der DAC («Division anti-crise») entschärft. Benny Berg und Maurice Thoss führten eine moderne Arbeitsgesetzgebung (mit funktionierendem Arbeitsamt und Arbeitslosengeld) ein.
Abschaffung der Todesstrafe
Aber auch gesellschaftspolitisch kam Luxemburg unter der Regierung Thorn weiter, befreite sich vom konservativen Mief und wurde moderner. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, das Scheidungsrecht angepasst, der Ehebruch entkriminalisiert … Robert Krieps wirkte fortschrittlich in den Bereichen Kultur und Schule.
Dass es dabei im Parlament auch zu parteiübergreifenden Gegenstimmen kam, verdeutlicht die Bedeutung dieser Schritte für die damalige Gesellschaft. Goebbels erinnert sich zum Beispiel mit gewissem Respekt daran, dass der spätere Staatsminister und damalige CSV-Abgeordnete Jacques Santer für die Abschaffung der Todesstrafe stimmte, während nicht alle Koalitionsabgeordnete hierfür eintraten.
Doch der lange Arm des Bistums und die damals noch große Macht der Kirche verhinderten auch manches: So schrieb Robert Goebbels gemeinsam mit Colette Flesch (DP) eine Reform des Gesetzes zum Schwangerschaftsabbruch. Den beiden schwebte eine weitgehende Fristenlösung vor, die allerdings von Thorn verworfen wurde, sodass ein abgeschwächtes Gesetz legale Realität wurde.
Für die Trennung von Kirche und Staat war es damals noch zu früh; die Antiklerikalen hatten noch keine Mehrheit …
Zum Schluss der Legislatur scheiterte die Regierung Thorn fast an einem Misstrauensantrag, bei dem es um Gelder für die Staatsbeamten ging. Die Regierung überlebte nur durch einige Enthaltungen der Opposition … und dadurch, dass Thorn den Abweichler zur Koalition – weil ferventer Anhänger der Staatsbeamtengewerkschaft – Boy Konen physisch und bis nach der Abstimmung in einen Raum einsperren ließ … Die Methoden der politischen Auseinandersetzung schienen damals offensichtlich andere gewesen zu sein …
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