Die zweite Auflage des Rootstown-Festivals in der Kulturfabrik feierte am Samstag mit lokalen und internationalen Künstlern der Reggae- und Hip-Hop-Szene ein rauschendes Fest zwischen Nachhaltigkeit und kultureller Vielfalt. Das Tageblatt nutzte die Gelegenheit, um mit Künstlern und Veranstaltern über ein Thema zu sprechen, das in unseren Nachbarländern schon länger heiß diskutiert wird, in Luxemburg allerdings noch erstaunlich wenig Beachtung findet. Die Rede ist von «Cultural Appropriation».
Von Tom Haas
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der kulturellen Aneignung. Der Begriff beschreibt die Übernahme von spezifischen Kulturtechniken ethnisch-sozialer Minderheiten durch die (weiße) Dominanzgesellschaft unter teils sträflicher Missachtung der Bedingungen, die diese spezifischen Techniken hervorgebracht haben.
Luxemburg ist durch die schiere Vielfalt an Menschen, die hier zusammentreffen, in gewisser Weise ein Labor zur Synthetisierung unterschiedlicher Spielarten des kulturellen Zusammenlebens. Einerseits bringen Einwanderer aus unterschiedlichsten Teilen der Erde Gebräuche und Traditionen mit, andererseits sind wir durch die starke, internationale Medialisierung auch einer lebendigen Mixtur von Akzenten der westlichen Massenkultur ausgesetzt. Allein die sprachliche Vielfalt ist stärker ausgeprägt als in jedem anderen Land Europas.
Das Rootstown-Festival stellt in mehrerer Hinsicht nochmal eine Verdichtung der luxemburgischen Verhältnisse dar und vertritt zugleich den Anspruch des dynamischen Zusammenspiels der unterschiedlichen Tendenzen. Auffällig ist das Augenmerk auf «Black Culture» – die beiden dominanten Musikrichtungen Reggae und Hip-Hop sowie auch das Live-Graffiti und der Dancehall-Workshop stammen aus der afroamerikanischen bzw. karibisch-kreolischen Kultur, erfahren vor Ort jedoch eine Reinterpretation durch luxemburgische Künstler. Woher kommt der Einfluss? Wie bewusst gehen die lokalen Acts mit der ihnen eigentlich fremden Tradition um? Und wie sehen die ursprünglichen Schöpfer diese Aneignung?
«Reggae bringt uns alle zusammen»
«Reggae und Rap sind aus der Diskriminierung entstanden, aus den Fehlern, die die Weißen gemacht haben», erklärt Dany von der luxemburgischen Band Los Dueños. «Wenn Weiße jetzt Reggae machen, ist das doch ein Zeichen der Einsicht. Und es zeigt, dass schwarze Kultur jetzt übergreift, dass die Musik anfängt, die Welt und die Sichtweise der Menschen zu verändern.»
Den Vorwurf, dass die Band sich damit die Kultur der Unterdrückten aneigne, ja auch kommerzialisiere, will er nicht gelten lassen. Die Message des Reggae sei eine Message des Friedens und der Eintracht – und das kommunizieren Los Dueños auch. «Es liegt in der Verantwortung der Künstler, die Kunst nicht zu missbrauchen.» Es bestünde ein himmelweiter Unterschied zwischen einem Künstler, der seine Erfahrungen und Ansichten in einer musikalischen Form verarbeitet, zu der er Zugang gefunden hat, und einem Musikproduzenten, der den aktuellen Markt nach Trends abklopft, um die Formel für einen Hit zu finden.
«Es ist ja auch nicht so, als würden wir eins zu eins die Größen der Szene imitieren – es ist eine Hommage an die Musik, mit der wir auch aufgewachsen sind. Wir sind Teil der Bewegung. Wir treten in den Kreis und nehmen die Hand der Leute rechts und links von uns. Reggae bringt uns alle zusammen.»
Eine andere Perspektive auf das Thema eröffnet Don G. Er hatte das Festivalteam letztes Jahr kontaktiert, da ihm auffiel, dass zwar viele lokale Künstler, aber kein jamaikanischer Act im Line-up vertreten war – ein Missstand, den die Veranstalter prompt korrigierten, indem sie ihn einluden. «Als ich nach Europa kam, war ich sehr überrascht, wie sehr die Leute hier Reggae schätzen. Auf Jamaika ist es nicht so – Reggae und Rastafari sind eher die Außenseiter», erklärt er. «Festivals wie hier gibt es auch nicht – eher Gatherings. Die Leute machen Musik, aber es ist weniger strukturiert.» Er hebt jedoch hervor, dass der jamaikanische Reggae auch eine spirituelle Komponente hat, die den europäischen Vertretern abgeht. «Meine Musik sind die Botschaften von Jah. Ich bin ein Medium, ich verkünde seine Wahrheit.»
Trotzdem sieht er die Umsetzung und Weiterentwicklung des Musikgenres in Europa als Fortschritt – solange die Botschaft von Einigkeit und Frieden erhalten bleibt. «Dancehall ist auf Jamaika derzeit die dominante Musik. Viele Dancehall-Künstler sind in ihren Songs aber offen gewaltverherrlichend. Das steht im Gegensatz zu den Prinzipien des Reggae.» «Die Geburtsstunde des Hip-Hops waren die ‹Block Partys von DJ Kool Herc in der Bronx», erklärt David Galassi, einer der Gründer der luxemburgischen Rapgruppe De Läb. «Das war damals ein Community-Ding – die Bronx war von Gangkriminalität zerrissen, aber zu Hercs Partys gingen alle. Und wenn man sich die Videos von damals ansieht, entdeckt man auch Weiße und Latinos – nicht viele, aber sie waren da. Und Gemeinschaft heißt für mich: Alle. Nicht Weiß gegen Schwarz, es soll offen für jeden sein.»
Blatt und Stift
Die Interviewpartner
Los Dueños ist eine luxemburgische Band, die sich im Spannungsfeld zwischen Reggae, Punk, Ska und Rap bewegt, sich aber auch nicht scheut, an passender Stelle ein überraschendes Metal-Riff zu spielen.
Don G ist ein jamaikanischer Reggaemusiker, der seit einigen Jahren in Luxemburg lebt.
Zoé Galassi ist neben Gustavo Morales eine der Veranstalterinnen des Rootstown-Festivals und unter anderem für das Booking und die Workshops verantwortlich.
David Galassi ist ebenfalls Veranstalter, Rapper und einer der Köpfe hinter «De Läbbel», einem luxemburgischen Hip-Hop-Label.
Diesen Aspekt schätzt er auch an der luxemburgischen Hip-Hop-Szene, die sehr stark von Menschen unterschiedlicher Herkunft geprägt ist. Die Musik schafft innerhalb der Mehrsprachigkeit eine gemeinsame Ausdrucksform. Auch der Zugang ist leicht. «Du brauchst nur ein Blatt und einen Stift, dann hockst du dich hin und schreibst auf, was dich bewegt.»
Je nach Spielart des Rap sieht David Galassi auch ein Potenzial zur Integration. «Gerade im Conscious Rap setzt du dich ja auch mit der Sprache auseinander, recherchierst, erweiterst deinen Wortschatz. Und Luxemburgisch ist sicher nicht die schönste Sprache, aber es ist meine Muttersprache.» Mit dem Ansatz, die eigene Sprache zu benutzen, um sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen, die eben auch diese Sprache spricht, schafft der Künstler einen Kosmos, der sich von der Imitation fremder Kulturtechniken emanzipiert und sie als kreatives Werkzeug zur Analyse der eigenen Umstände benutzt.
Zoé Galassi sieht den Vorwurf der «Cultural Appropriation» insgesamt kritisch. «Historisch gesehen hat jede Kultur von anderen abgeschaut – Imitation ist einfach eine Art des Menschen, sich weiterzubilden. Kultur ist insgesamt dynamisch und bildet lokal eigene Identitäten im globalen Kontext heraus.» Sie räumt jedoch ein, dass das Festivalteam sich diesbezüglich noch in einem Lernprozess befindet und auch durch Input von Künstlern sensibilisiert wird.
Das Event selbst stand, unabhängig von den theoretischen Diskursen, ganz im Zeichen von «One Love». Das hochkarätige Line-up (u.a. Akae Beka) wurde durch eine Fülle von Workshops ergänzt, welche dem Besucher einen Einblick in verschiedene Bereiche ermöglichte. Bindeglied zwischen den einzelnen Angeboten waren Nachhaltigkeit und Self-Empowerment – dieser rote Faden zog sich von der «Esch Future Talks»-Konferenz von Mesa bis zum Beatmaking-Workshop.
Das Vorhaben, den Gast auf diese Weise zur Mitgestaltung des Festivals zu bewegen, ist bei dem generell eher lethargischen Publikum in Luxemburg eine Kunst für sich. Trotzdem fanden zumindest die Workshops großen Anklang, während die Konferenz im «Ratelach» eher spärlich besucht war. Das hielt die Teilnehmer jedoch nicht von einer angeregten Diskussion ab. Die Vernetzung zwischen den einzelnen Gruppen, die sich für eine nachhaltigere Politik engagieren und selbst den Anspruch vertreten, ihren Lebensraum mitzugestalten, dürfte auf jeden Fall einen Schritt vorangekommen sein.
Insgesamt wirkten die Veranstalter zufrieden – das lässt hoffen, dass uns nächstes Jahr die dritte Auflage erwartet.
Was ist «Cultural Appropriation»?
«Cultural Appropriation», zu Deutsch «Kulturelle Aneignung», beschreibt die Verwendung von Symbolik, Praxis und Wissen einer fremden Kultur, ohne dabei die ursprüngliche Bedeutung und den Kontext zu reflektieren. Oft handelt es sich um Eigenheiten einer Minderheit, die von Akteuren der Mehrheit in einer Gesellschaft gedankenlos übernommen werden.
Kulturelle Aneignung unterscheidet sich von der Hommage, vom Zitat oder von der satirischen Übernahme dadurch, dass sie die Verwendung eben nicht kontextualisiert und sich auf die ursprüngliche Herkunft bezieht. Stattdessen wird das Element als originaler Teil der eigenen Kultur betrachtet, wodurch das identitätsstiftende Moment, welches das Element in der Minderheitenkultur besaß, unter den Tisch fällt.
Der Begriff stammt aus der Soziologie und wurde im Zuge der «Critical Whiteness»-
Bewegung von Greg Tate in der aktuellen Debatte wiederbelebt. In seinem Buch «Everything but the Burden» beschreibt Tate, wie die weiße Mehrheit in den USA sämtliche Elemente der schwarzen Kultur übernimmt, von der Musik bis zur Kleidung, ohne jedoch die Bedingungen der sozialen Benachteiligung zu reflektieren, die überhaupt erst zu der Herausbildung von Kulturtechniken wie Blues, Soul und Hip-Hop geführt haben. Unterschiedliche Künstler wie Damien Hirst und Macklemore stehen inzwischen in der Kritik, sich recht unbedacht an schwarzer Kultur zu bedienen.
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