Nachdem wir die Bilanz der ersten sechs Monate nach dem historischen Wechsel mit dem neuen Escher Schöffenrat gezogen hatten, ist in dieser Woche die Opposition dran. Nach dem Unabhängigen Dan Codello am Dienstag, kommt nun Marc Baum, Fraktionssprecher von «déi Lénk», zu Wort. Der 40-jährige Abgeordnete war von 2008 bis 2014 Mitglied des Escher Gemeinderats und wurde im Oktober 2017 wiedergewählt. Wegen des Rotationsprinzips seiner Partei gab er zwischendurch sein Mandat ab.
Tageblatt: Wie haben Sie die ersten sechs Monate unter der neuen Mehrheit in Esch erlebt?
Marc Baum: Die Gemeinderatssitzungen liefen bislang ziemlich chaotisch ab. Der Schöffenrat hat die Form noch nicht verinnerlicht, unter der eine solche Sitzung souverän abgehalten wird. Ich stelle auch insgesamt einen Mangel an Souveränität bei der neuen Mehrheit fest. Was ja zum Teil verständlich ist, weil sie neu ist und die „alten Hasen“ des vorigen Schöffenrats ihr auf der Oppositionsbank gleich gegenübersitzen. Ich stelle aber auch Tendenzen fest, dass sich aus diesem Mangel an Souveränität gewisse autoritäre Formen ergeben. Auf einmal wird zum Beispiel einem Gemeinderatsmitglied das Wort verwehrt, obwohl es dieses vorschriftsmäßig beantragt hat.
Ferner gibt es keine gemeinsame Linie auf der Kommunikationsebene. Einer sagt etwas und ein anderer widerspricht ihm eine halbe Stunde später. Das vereinfacht die Dinge nicht.
Können Sie diese Aussage mit einem Beispiel belegen?
Schöffe Pim Knaff kündigt an, den Gewerbesteuersatz auf das Niveau von Luxemburg-Stadt zu senken und Bürgermeister Georges Mischo schaut nur verdutzt aus der Wäsche, weil er davon nichts wusste. Oder bei der Diskussion um das Verkehrsreglement, das nicht vom Innenministerium abgesegnet war. Auf meine Nachfrage hin, hat Knaff morgens im Gemeinderat bestätigt, dass wir keine Parking-Kontrollen in den Vierteln durchführen, für die es keine rechtliche Grundlage gibt. Mittags sagt Mischo auf Radio 100,7 genau das Gegenteil. Ich denke, dass Pim Knaff in dieser Angelegenheit eher richtig lag, denn es wäre quasi Nötigung, die «Pecherten» dazu anzuhalten, etwas Illegales zu tun.
In welchen inhaltlichen Bereichen sehen Sie die Stärken des neuen Schöffenrats?
Sie gehen recht hemdsärmelig an die Sache heran. Sie nähern sich den Themen mit einer gewisse Naivität an, vielleicht auch im positiven Sinne. Das kann durchaus erfrischend sein. Beim vorigen Schöffenrat hatte man den Eindruck, dass vieles festgefahren war. Das ist zurzeit nicht der Fall. Das Erfrischende kann aber auch schnell ins Gegenteil umschlagen.
Wo sehen Sie Schwächen?
Die CSV hat ihre Wahlkampagne mit dem Argument geführt, dass es in Esch nicht vorangeht. Ich kann aber bislang noch nicht so richtig erkennen, was die neuen Ideen sein sollen. Und ich finde auch nicht, dass die vom vorigen Schöffenrat begonnenen Projekte unter der neuen Mehrheit nun schneller umgesetzt werden. Es wurde uns versprochen, dass das Projekt zur Umgestaltung der «Lentille Terre-Rouge» dem Gemeinderat im November oder Dezember vorgestellt wird. Jetzt heißt es schon, der Termin sei im kommenden Herbst.
Wohlwissend, dass das Projekt von einem privaten Bauherrn geplant wird …
Ja, doch angeblich war das Projekt ja schon vor sechs Monaten in trockenen Tüchern. Der Schöffenrat hat viel mit Ankündigungen gearbeitet, muss aber nun feststellen, dass das alles nicht so evident ist. Bürgermeister Georges Mischo hat im Tageblatt-Interview vergangene Woche verkündet, dass die neue Sporthalle Ende 2021 stehen soll. Ob dieses Datum realistisch ist, bleibt noch abzuwarten. Gleiches gilt für die geplante Wobrécken-Schule.
Inwieweit erkennen Sie einen politischen Richtungswechsel und ein gemeinsames Projekt bei der neuen Mehrheit?
Im Tageblatt-Interview vergangene Woche hat der Schöffenrat sich damit gebrüstet, dass die drei Parteien ihre eigenen Wahlprogramme zugunsten des gemeinsamen Koalitionsabkommens zurückgestellt haben. Bei genauerem Hinsehen steht in diesem Abkommen aber nur wenig drin. Jeder hat seine eigene Agenda, doch das gemeinsame Projekt für Esch erkennt man nicht.
Daher ist es auch schwer einen politischen Richtungswechsel auszumachen, weil es in fast alle Richtungen geht. Erst hat Pim Knaff eine klare liberale Linie angekündigt. Danach meinte Personalschöffe André Zwally, noch in der Haltung eines Oppositionspolitikers, es reiche jetzt mit den Neueinstellungen. Man müsse sogar darüber nachdenken, bestimmte Dienste auszulagern. Die Praxis der letzten drei Monate zeigt aber etwas ganz anderes. Es werden sehr viele Posten geschaffen. Vom Prinzip her ist das natürlich begrüßenswert, aber es ist genau das Gegenteil von dem, was angekündigt wurde. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, eine politische Linie auszumachen.
Welche Erwartungen haben Sie an den Schöffenrat?
Ich vermisse vor allem, dass er die unbequemen Themen anpackt. Der Sozialbericht ist angeblich seit einem halben Jahr abgeschlossen, doch kein Gemeinderat hat ihn bislang zu sehen bekommen. Wahrscheinlich hat das Gründe. Dort stehen vermutlich Dinge drin, die sehr unbequem sind. Sowohl für den Schöffenrat als auch für die Stadt Esch insgesamt.
Sie waren bereits Oppositionsrat unter der LSAP-«déi gréng»-Mehrheit. In welchen Bereichen sehen Sie die größten Unterschiede zu den «Neuen»?
Jetzt herrscht mehr Durcheinander. Das ist das Mindeste, was man sagen kann. Die Gemeindebeamten betonen jedoch, dass die Neuen im Gegensatz zum vorigen Schöffenrat viel präsenter seien. Vorher war praktisch nur Vera Spautz physisch anwesend. Auch würden jetzt mehr Schöffenratsversammlungen abgehalten, bei denen nicht die Hälfte der Mitglieder fehlt.
Das Problem der neuen Mehrheit ist aber, dass, mit Ausnahme von Martin Kox, jedes Schöffenratsmitglied überrascht ist, dass es sich in diesem Amt wiederfindet und dementsprechend auch keinen eigentlichen Plan hat. Wenn Georges Mischo im Interview sagt, er hätte sich das vorgestellt, dann hat er vielleicht darüber nachgedacht, wie es ist, «Här Buergermeeschter» genannt zu werden. Aber er hat sich nicht vorgestellt, was das bedeutet und wo er ansetzen muss, um etwas zu bewegen. Und das merkt man. Die anderen standen auf den Schienen und der Zug ist gerollt. Ob er gut gerollt ist, steht auf einem anderen Blatt.
Brauchen sie vielleicht noch etwas mehr Zeit?
Man kann verstehen, dass die ersten drei, vier Monate etwas schwieriger sind. In der Sitzung vom vergangenen Freitag habe ich mich aber gefragt, ob ich bekifft sei, im Hinblick auf das, was da abgelaufen ist. Die Vorstellung der Schulorganisation war so etwas von durcheinander und unstrukturiert. Man hat auch überhaupt nicht herausgehört, wo es denn nun eigentlich hingehen soll. Das wird dann damit entschuldigt, dass es ein Übergangsjahr ist. Nach fast acht Monaten im Amt, müssten sie aber fähig sein, mindestens eine «normale» Gemeinderatssitzung zustande zu bringen. Und sie müssten so langsam nun auch mal eigene Projekte liefern.
Mit der «Päischtkiermes» und der partizipativen Kampagne zur Aufwertung des Stadtzentrums wurden zwei eigene Projekte umgesetzt …
So ziemlich alles wäre besser gewesen, als die «Päischtkiermes» unter dem Viadukt zu belassen. Die vorige Mehrheit hätte das bereits vor langer Zeit ändern müssen. Das neue Konzept ist zwar nicht umwerfend, doch immerhin besser als vorher. Ich weiß aber nicht, ob solche «Gimmicks» langfristig ausreichen. Es ist schlussendlich doch nur eine Kirmes.
Bei der partizipativen Kampagne bleibt erst einmal abzuwarten, was dabei herauskommt. Die Gefahr besteht darin, dass die Probleme der Alzettestraße auf den Geschäftsverband reduziert werden. Man muss schauen, wie der Schöffenrat mit all den Vorschlägen der Bürger umgehen wird. Und wie der Prozess dann aussieht, der von den Ideen zu konkreten Aktionen führt.
Wie sehen Sie die Rolle Ihrer Partei in der Opposition?
In der vergangenen Legislatur haben wir versucht, mit konkreten Initiativen als Oppositionskraft wahrgenommen zu werden. Mittlerweile ist die Situation etwas anders. Die LSAP ist komplett zerfahren. Deshalb liegt unsere Aufgabe in den kommenden Monaten – traurigerweise – darin, die Oppositionsführung zu übernehmen. Was die Sozialisten zurzeit in den Gemeinderatssitzungen aufführen, ist nicht ganz seriös. Auf der LSAP-Bank sitzen zwei ehemalige Schöffen, die nur quengeln. Jean Tonnar stimmt gegen seine eigene Fraktion, die durch den Weggang von Dan Codello eh schon dezimiert ist. Vera Spautz und Taina Bofferding versuchen, den Laden irgendwie zusammenzuhalten, wobei ich mir von Bofferding etwas mehr politische Akzente wünschen würde.
In welchen Bereichen liegen Ihre politischen Prioritäten?
Wir bedauern, dass die Stadt Esch ihre Bürger nicht in die Ausarbeitung des neuen Flächennutzungsplans (PAG) eingebunden hat. Eine öffentliche Diskussion über die Stadtentwicklung findet in Esch einfach nicht statt. Nicht einmal der Gemeinderat hat Einblick in den neuen PAG. Von der Erschließung der «Lentille» durch einen Privatinvestor darf offenbar niemand etwas erfahren, weil ja kommerzielle Interessen im Spiel sind.
Bei Esch-Schifflingen wurde im September 2017 der Vorbericht veröffentlicht, doch dieser wurde noch überhaupt nicht diskutiert. Dabei steht da drin, dass Esch bis 2030, je nach Szenario, auf über 52.000 Einwohner anwachsen soll. Das bringt enorme Herausforderungen für die Stadt mit sich. Diese Diskussionen finden überhaupt nicht statt. Deshalb wollen wir den Schöffenrat dazu bringen, endlich Stellung zu beziehen.
Als Künstler haben Sie bestimmt auch die Diskussionen um Esch 2022 verfolgt. Ihr Eindruck?
Ich bin wirklich erstaunt darüber, wie der neue Schöffenrat es fertig bringt, Esch 2022 in den Sand zu setzen. Das Ganze fängt an, irrationale Züge zu bekommen. Vor acht Monaten hat die Jury uns aufgrund des Projekts, das ihr vorgestellt wurde, den Zuschlag gegeben. Dann kommt der Wechsel und die neue Mehrheit tut einfach gar nichts. Sie versucht sogar noch, das Projekt mit teils fadenscheinigen Argumenten zu boykottieren. Es wurden keine Leute eingestellt, um das Projekt zu verwirklichen. Und sie diskutieren immer noch darüber, ob die beiden Koordinatoren denn nun bleiben dürfen, obwohl das Zeitfenster sehr eng ist.
Mischo und Knaff sind gerade dabei, das Projekt aus der Hand zu geben und sich ihrer Verantwortung zu entziehen, wenn sie im Interview sagen, sie würden sich jederzeit zurückziehen, wenn die Ad-hoc-Arbeitsgruppe dies wünsche. Das stellt auch einen Bruch mit dem Kulturentwicklungsplan der Stadt Esch dar. Dabei hätte Esch 2022 ihr Vorzeigeprojekt vor den nächsten Gemeindewahlen werden können. Doch sie sind wirklich dabei, es zu verbocken.
In Esch sur Alzette wird schon seit Jahren alles verbockt, die neuen sind nicht besser als die alten, leider.