«Eurofighter», «Mr. Energy», «Superturmes» oder einfach nur «Tuerm». Der Politiker Claude Turmes versteckt sich hinter vielen Spitznamen. Doch wer ist dieser Mann eigentlich, der nach 19 Jahren Europapolitik am Mittwoch als Staatssekretär zurück nach Luxemburg kehrt? Ein Porträt.
«Vergiesst et.» Die Reaktion von Claude Turmes war eindeutig. Er wollte nicht. Warum auch? Die Arbeit im Europaparlament galt für ihn als Berufung. Als Bestimmung. Doch so entschlossen seine Antwort anfangs gegenüber den beiden Parteistrategen Abbes Jacoby und François Bausch war, so schnell revidierte er sie. Weil er es seinem Freund, dem auf so tragische Weise verstorbenen Camille Gira, schuldet, dessen Erbe er verteidigen will. Weil er es seiner Partei schuldet, die ohne seine Stimmen die erneute Regierungsbeteiligung für unmöglich hält. Und weil er es sich selbst schuldet: Denn Luxemburg reizt ihn stärker, als er offen zugeben mag. Claude Turmes hat in Luxemburg noch einiges vor.
Donnerstag, 8.30 Uhr im Gebäude der Grünenfraktion. Ein anderer Termin sei leider nicht möglich, heißt es aus seinem Büro. Wer Claude Turmes in diesen Tagen treffen will, muss Flexibilität aufbringen. Er ist mit einem Fuß im Europaparlament, mit dem anderen in Luxemburgs Regierung. Und als man eintrifft, ist Turmes längst da. Die grauen Haare im Zopf. Der oberste Hemdknopf ist offen. Die Augen blicken wachsam durch die runden Brillengläser. Aufrechte Körperhaltung. Fester Händedruck. Und dazu ein Lächeln. «Ich fühle mich gerade wie in einem Teilchenbeschleuniger», so die Begrüßung.
Narrative und Identität
Turmes legt gleich los. Spricht über Narrative und Identität. Über das Versäumnis von Journalisten und Politikern, die Dinge zu erklären, den Menschen das große Ganze vor Augen zu halten. Über die Verunsicherung durch Globalisierung, durch Beschleunigung, durch Wandel. Und weil niemand ihnen eine sinnstiftende Erzählung liefert, füllen viele Menschen das narrative Vakuum mit Alternativen – «Stacheldraht-Alternativen», wie Turmes sie nennt. Sein Plädoyer: «Wir müssen uns wieder trauen, über Heimat zu reden.»
Wo denn seine Heimat sei, will man wissen. Schließlich pendle er zwischen Brüssel, Straßburg, Luxemburg und der Bourgogne, dem Wohnort seiner Lebensgefährtin. Wahrscheinlich hätte er bis vor Kurzem Brüssel oder Europa gesagt. Doch Turmes zögert. Dann: «Ich trage die Heimat in mir. Heimat ist ein Gefühl.»
Die Bauentscheidung
Auch seine politische Karriere hat mit einem Gefühl begonnen. Das Gefühl, dass sich die Welt anders verändert, als er sich wünscht. Das war in den 1980er-Jahren. Der Luxemburger Energiekonzern Cegedel wollte eine Hochspannungsleitung nach Diekirch bauen. Eine Schneise sollte durch den Wald geschlagen werden. Das missfiel Turmes. Es war die Gegend seiner Jugend. Dort, wo der passionierte Sportler nahezu täglich joggen ging oder Yogaübungen machte.
Turmes hätte es dabei belassen können. Achselzucken, weiter leben, den Weg des Sportlehrers weitergehen. Doch dem war nicht so. Er ließ den Unmut nicht zur Frustration anwachsen, sondern begann, sich erst zu informieren. Dann zu engagieren. Er brachte in Erfahrung, dass die Hochspannungsleitung eigentlich keine Notwendigkeit war, dass die Gemeinde Diekirch sie nicht bräuchte. Und so sammelte er Unterschriften. Mehrere Hundert. Und zudem verkaufte er mit jeder Unterschrift zwei Energiesparlampen. «Eine positive Geste, die den Menschen die Richtung vorgibt», so Turmes. Gefühl bekämpft man wohl am besten mit Gefühl. Die Sache war erfolgreich, die Hochspannungsleitung wurde nicht gebaut.
Es war der Beginn von Turmes› politischer Karriere. Und die Episode enthält bereits alle Zutaten seines Schaffens: Expertise, Mehrheiten schaffen, positive Botschaft am Ende. Und dazu die nötige Energie, die es braucht, um Energie zu sparen.
Atypischer Politiker
Turmes begann, sich mehr für Natur- und Klimaschutz zu interessieren. Das Bauchgefühl, das ihn dazu gebracht hatte, nährte er nun mit Wissen. Als Zäsur nennt er den Bericht «Schutz der Erdatmosphäre», der im deutschen Bundestag Ende der 1980er Jahre debattiert wurde. 1.700 Seiten über langfristigen Klimaschutz. Über die Gefahr von FCKW-Werten, Zerstörung der Tropen und Risiken von CO2-Emissionen. Turmes las ihn komplett. «Wenn das so stimmt, dann weiß ich, was zu tun ist», dachte sich Turmes damals. So wurde aus einem Gefühl Gewissheit. Und aus Gewissheit eine Mission.
Doch er war ein atypischer Politiker: Er trat in keine Partei, sondern suchte den außerparlamentarischen Weg der Politik. Halbtags Sportlehrer im «Lycée technique du Centre», die andere Zeit Aktivist des «Mouvement écologique». Und gerade dort lernte er, dass Politik ein Spiel von Mehrheiten ist. Argumente sind gut, Mehrheiten sind besser. Sprich: Man muss nicht der gleichen Überzeugung sein. Aber man kann ein gleiches Anliegen haben.
Loslösen vom Links-Rechts-Schema
Turmes beherzigt diese Vorgehensweise wohl wie nur wenige. Es sei Théid Faber gewesen, der langjährige Präsident des Mouveco, von dem er dieses politische Handwerk lernte. Man müsse sich lösen von Parteigrenzen, vom Links-Rechts-Schema. Denn Klimaschutz findet in allen Parteien seinen Anklang. Bei den Linken, den Liberalen – und auch bei den Konservativen.
Als Turmes 1999 ins Europaparlament wollte, war er bereits ein exzellenter Netzwerker. Er war führendes Mitglied der Umweltorganisationen «Friends of the Earth Europe» und Eufores. Aber immer noch kein Grüner. Er hatte keine Parteikarte. Dass er dennoch auf die Liste kam, gegen den Willen einiger Grüner, hatte er Camille Gira zu verdanken. Und dass er schließlich ins Parlament zog, auch. Denn Gira holte als Listenspitze fast doppelt so viele Stimmen wie der Zweitgewählte, François Bausch. Und es war auch Gira, der sich dafür einsetzte, den etwas schrulligen, bis dato parteilosen Turmes ins Parlament zu schicken – auch wenn dieser abgeschlagen auf Rang sieben landete, weit hinter Parteigrößen wie Renée Wagener oder Robert Garcia. Kurz: Ohne Gira hätte es den Europapolitiker Turmes wohl nicht gegeben.
Europe first
Das EU-Parlament stellte sich als exzellenter Biotop für Turmes heraus: Er war mehrsprachig, Netzwerker mit einem Hang zur Exzentrik sowie der nötigen Disziplin, sich in Dossiers einzuarbeiten. Energie, Klima und Natur – Turmes wurde schnell zu einer wichtigen Person, zu einem «Player», wie man in Brüssel sagt. Er trat als Gastredner bei Veranstaltungen von Großkonzernen der Industrie auf. In seinem kleinen Büro tummelten sich Konservative, Lobbyisten oder sonstige wichtige Akteure aus Brüssel. Und gerne auch gleichzeitig. Dann saßen 20 Personen in Anzügen eng aneinandergerückt und berieten, wie sie vorgehen sollten. Turmes soll dabei stets äußerst strategisch gedacht haben, berichten Bekannte. Wie beim Schachspiel schob er die Figuren hin und her, dachte sich Medienkampagnen und sonstige Aktionen aus, um Mehrheiten zu erlangen. Frei nach dem Prinzip: «Divide et impera» – teile und herrsche. «Ich habe insgesamt vielleicht zehn Prozent mit Grünen geredet und 90 Prozent mit anderen Politikern», sagt er selbst dazu. Turmes sieht zwar aus wie ein Müsli, kann aber ein knallharter Machtpolitiker sein.
Doch wie weit geht sein Pragmatismus, wo endet das Taktieren und chamäleonhafte Auftreten? «Bei Rechtsradikalen ist Schluss», so Turmes. Doch darüber hinaus müsse man mit allen reden: Gerade das Europäische Parlament, in dem es keine Regierungsmehrheit gibt und die Grünen lediglich 52 von 751 Abgeordneten stellen, sei dafür besonders geeinigt. Er sei Idealist, aber kein Ideologe.
Bei wichtigen Abstimmungen setzte er sich am liebsten in die letzte Reihe des EU-Parlaments in Straßburg. Von dort aus könne man alles beobachten, habe man alles im Blick. Wer wackelt, wen könnte man noch umstimmen? Es ist wie die Libero-Position im Fußball, die des Lenkers. Er sei der «Libero der Grünen-Fraktion», pflegte er zu Mitarbeitern zu sagen.
Rückkehr nach Luxemburg
2013 wäre Turmes bereits beinahe in Luxemburg gelandet. Er war als Minister in der Dreierkoalition im Gespräch. Er selbst hätte es sich durchaus vorstellen können. Sagt er heute. François Bausch sagt das auch. Aber die Sache scheiterte am Frauenproporz – den Prinzipien der Grünen. «Wenn ‹déi gréng› mit vier Männern in die Regierung eingetreten wären – was für ein Zeichen hätten wir dann gesendet?», so Bausch.
Und so wollte Turmes eigentlich weiter in Europa bleiben, ja gar Luxemburger Kommissar werden. Bis zu dem Zeitpunkt, als sein alter Freund Gira starb und Bausch und Jacoby sich daran erinnerten, dass Turmes doch ursprünglich aus Diekirch stammt. Dass er zuvor bei den Kommunalwahlen von 2005 vergeblich versuchte, in den Gemeinderat von Esch/Alzette gewählt zu werden, spielte bei den Überlegungen ebenso wenig eine Rolle wie die Gefahr, den gefestigten Grünensitz im Parlament zu opfern. Luxemburger Nationalwahlen zuerst. Alles andere sehe man danach. Ob er eigentlich immer noch Kommissar werden will? «Schwierig», so Turmes. Seine Wohnung in Diekirch hat er jedenfalls nur gemietet – nicht gekauft.
Wage es mittlerweile zu bezweifeln, dass Turmes ein würdiger und ebenbürtiger Nachfolger für Camille Gira ist. Die Grünen haben offenkundig ein Personalproblem.
Esou een hu mer scho mei laang...
Esou een huet eis nach gefeelt.