Tom Schmitz (31) ist Luxemburger und forscht als Uniprofessor in Mailand. Sein scharfsinniger Büronachbar wäre beinahe Italiens Premierminister geworden.
Von Dhiraj Sabharwal
Wie verhindert man die Machtergreifung durch Technokraten? Man vertraut ihnen die Regierungsbildung an. In Italien ist dieser Widerspruch von Erfolg gekrönt – wenn auch unfreiwillig.
Als Präsident Sergio Mattarella jüngst eine Technokraten-Regierung als Notlösung vorschlug, ist eine tot geglaubte Koalition wiederauferstanden. Die populistische Cinque Stelle (M5S) und die rechtsextreme Lega haben einen Konflikt heraufbeschworen, der ganz nach ihrem Gusto war. Das Feindbild: Mattarella und die verhasste Technokratie.
Der italienische Preuße
Längst sind die Zeiten vorbei, als sich viele Italiener über die Ablösung ihres Bunga-Bunga-Premiers durch einen kompetenten Technokraten freuten. Nachdem Silvio Berlusconi sein Land fast zu Tode gewirtschaftet hatte, sollte der ehemalige EU-Kommissar Mario Monti Italien aus der Krise führen. Sein Vertrauensvorsprung war groß. Man nannte ihn «Super Mario».
Am Ende der kurzen Amtszeit galt Monti jedoch als Konkursverwalter im Namen der Banken, der bei kleinen Renten statt bei üppigen Gehältern die Schere ansetzt. Ein italienischer Preuße. Er ist zum Sinnbild der herzlosen Technokratie geworden: Das italienische Experiment einer Regierung unter Leitung von Technokraten anstelle eines Kabinetts gewählter Politiker ist gescheitert. Umso selbstzerstörerischer wirkte Mattarellas Versuch, im Jahr 2018 einem noch größeren Technokraten als Monti den Auftrag zur Regierungsbildung zu erteilen.
Für den Luxemburger Tom Schmitz ist dieser Übertechnokrat kein Fremder. «Tom arbeitet Tür an Tür mit ihm. Das ist doch eine Wahnsinnsgeschichte!», steht in der überraschenden Facebook-Nachricht eines ehemaligen Arbeitskollegen aus dem Tageblatt. Er ist ein Freund von Schmitz und auf dessen berühmten Büronachbarn aufmerksam geworden.
Wer denn dieser Tom Schmitz sei? Ein wirklich netter, leicht zurückhaltender und hochbegabter Akademiker, lautet die Antwort: «En huet wierklech massiv eng drop.» Im Nachhinein zeigt sich: die Beschreibung ist nicht übertrieben. Schmitz hat einen Bachelor, drei Master und ein Doktorat. Er ist mit 28 Assistenzprofessor geworden. Sich langweilen, scheint nicht seine Stärke zu sein. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler lehrt und forscht an der auf Ökonomie spezialisierten «Bocconi University» in Mailand. Er studierte in Paris und Barcelona, bevor es ihn per Zufall nach Italien verschlagen hat.
«Es ist schwer, seine Zukunft nach dem Doktorat zu planen. Neue Stellen als Professor sind Mangelware», erzählt Schmitz am Telefon. Die Stimme ist ruhig. Er wirkt vorsichtig, aber nicht distanziert. Sein Luxemburgisch hat einen leichten Akzent. Bei italienischen Wörtern werden die Vokale offen und lange betont. «Ich habe mich in den USA und auch in Italien beworben. Ich erhielt ein Angebot von der Bocconi-Universität.» Sein Bocconi klingt charmant nach «Bo-ccoooni».
«Ich kann mittlerweile gut Italienisch und unterhalte mich auch mit meinen älteren Arbeitskollegen auf Italienisch», freut sich Schmitz. Denn eigentlich müsste er die Landessprache, wie an so vielen internationalen Unis, nicht beherrschen. Die meisten Kurse sind nicht auf Italienisch. «Bei den jungen Assistenzprofessoren gibt es viele Ausländer. Wir haben Franzosen, Deutsche, Argentinier, Amerikaner und Türken. Wir unterhalten uns auf Englisch.»
«Mr. Forbici»
Die 1902 gegründete Bocconi wurde von einheimischen Professoren internationalisiert. Bis heute sind ihre bekanntesten und einflussreichsten Professoren Italiener. Einer von ihnen hat jüngst in ganz Europa Schlagzeilen gemacht. «Carlo Cottarelli ist dieses Jahr zu uns gestoßen. Er war lange beim Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington.»
Es stimmt also. Tom Schmitz arbeitet mit dem Ökonomen zusammen, der noch vor Kurzem Italiens Premier in spe war. «Er ging beim IWF in Pension und hat ein kleines Forschungsinstitut für öffentliche Finanzen gegründet. Er meldete sich auch bei uns an der Bocconi», erinnert sich der Luxemburger.
Der IWF ist für viele Südeuropäer eine unerwünschte Institution. Er ist im Zuge der Griechenlandkrise zum Symbol des rücksichtslosen Neoliberalismus geworden. Die Schuldenschlacht mit Griechenland wurde auf dem Rücken der Normalsterblichen ausgetragen, die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet, statt geschlossen. Ob berechtigt oder unberechtigt, die geläufige Kritik lässt sich vereinfacht so zusammenfassen: Am Tag Austerität predigen, abends Austern schlürfen; Lieber Herzen rausschneiden als Staatsschulden stutzen. Der IWF-Mann Cottarelli bietet pro Jahr einen Lehrauftrag an der Bocconi an. Ob er wohl im Umgang mit Kollegen und Studenten so herzlos wie sein ehemaliger Arbeitgeber ist?
«Er ist ein sehr freundlicher Mensch. Als ich ihn das erste Mal getroffen habe, sprachen wir Italienisch. Ich habe ihn gesiezt. Er sagte: ‹Nein, nein. Nenn mich doch Carlo. Wir sind hier Arbeitskollegen.'» Schmitz empfindet echte Sympathie für Cottarelli. Man spürt es. Der ehemalige IWF-Kader scheint zumindest im Umgang mit Kollegen ein jovialer Mensch zu sein. Auch inhaltlich könne man ihm nur schwer das Wasser reichen: «Cottarelli ist ein methodischer Mann. Er kommt sehr ernsthaft und reflektiert rüber.»
25 Jahre IWF-Karriere in den USA, wenn auch mit Unterbrechung, bleiben aber nicht folgenlos. Cottarelli wird «L’americano» genannt. Als der damalige Premier Enrico Letta ihn 2013 nach Rom berief, um die Staatsausgaben zu senken, war sein zweiter Spitzname geboren: «Mr. Forbici», Herr Schere. Seine Rezepte wurden von vielen Italienern als Stutzen des Sozialstaates wahrgenommen. Dabei war er zunächst beliebt. Er kam zu Fuß zur Arbeit. Ein erfrischender Kontrast zur Dekadenz berlusconischer Eliten. Allerdings scheiterte auch Cottarelli an der Bürokratie. Lettas Nachfolger, Matteo Renzi, lobte ihn weg. Er musste von Rom zurück zum IWF. Sein Fehler: keine Schere im Kopf zu haben – er wollte Autobahnen nicht mehr am Tag beleuchten.
Als Präsident Mattarella ihn dieses Jahr mit der Regierungsbildung beauftragte, hielt sich die Begeisterung in Grenzen: Schon wieder ein Rechner und Zähler, der Italien für das internationale Kapital gefügig machen soll.
Der «Sündenbock»
Dabei war Cottarelli erst vor einem Jahr nach Italien zurückgekehrt. Er wurde zum gern gesehenen TV-Gast und schrieb Kolumnen für italienische Qualitätsmedien wie La Stampa. Es ist jedoch ein reines Zufallsprodukt, dass Tom Schmitz nur eine Bürowand von Cottarelli trennt.
«Ein Arbeitskollege ist dieses Jahr im ‹Sabbatical›. Er hat das Büro direkt neben mir.»
Was nach Black Sabbath und den Erfindern des Heavy Metal klingt, ist in Wirklichkeit nicht ganz so schnittig: Es handelt sich um eine mehrmonatige Auszeit vom Job. «Deswegen ist der Raum frei. Genau in diesem Büro sitzt Cottarelli. Aber er ist ein sehr beschäftigter Mann und nur wenig bei uns.»
Cottarellis Bekanntheit half ihm am Ende wenig. Die Populisten von Cinque Stelle (M5S) und Lega machten Stimmung gegen Mr. Forbici. Dabei sollte er nur noch Präsident Mattarella die Ministernamen seiner Technokratenregierung nennen: Sie wären vereidigt worden und hätten unter L’americano eine Übergangsregierung bis zu Neuwahlen geführt.
Es fehlte Herrn Schere jedoch die nötige Unterstützung im Parlament. Zudem beflügelte die Hetze M5S und Lega in den Umfragen. Die Angst wuchs: Eine Technokratenregierung unter Cottarelli könnte die Wähler noch stärker in die Arme von Populisten und Rechtsextremen treiben.
Tom Schmitz und seine Kollegen machten sich Sorgen um den Ruf ihrer Uni. «Es gab eine gewisse Skepsis. Vor ein paar Jahren hatte Italien die Monti-Regierung. Sie nahm unpopuläre Maßnahmen wie die Rentenreform. Wenn du einen Italiener nach dieser Regierung fragst, ist die Begeisterung klein», erklärt der Luxemburger nachdenklich und ergänzt: «Wir haben uns am Departement gesorgt, dass eine neue technokratische Regierung dem Ruf der Bocconi schaden könnte, wenn sie unbeliebte Maßnahmen treffen müsste. Die Angst war real – spätestens als die Kurse an den Börsen fielen.»
Die Italiener hätten noch die Bilder aus Griechenland im Kopf gehabt. «Die Menschen fürchteten sich, dass auch in Italien Kapitalkontrollen und Notstandsmaßnahmen eingeführt werden könnten». Schmitz zeigt aber Verständnis für den Technokraten und nuanciert: «Wir sorgten uns, dass Cottarelli am Ende der Sündenbock für M5S und Lega ist, der ihre Drecksarbeit machen muss, weil sie mit der Regierungsbildung gescheitert waren.»
Der Flur der Macht
Cottarelli hätte die schmutzige Arbeit zumindest nicht alleine verrichten müssen. Der Wirtschaftsprofessor Guido Tabellini wäre sein Finanzminister geworden. «Auch Tabellini ist bei uns an der Uni. Ich kenne ihn wesentlich besser als Cottarelli», erwähnt Schmitz, als sei es das Normalste der Welt, möglichen Premier- und Finanzministern im Flur über den Weg zu laufen. «Tabellini war längere Zeit Rektor der Bocconi. Er ist einer unserer bekanntesten Professoren. Er hat unser Wirtschaftsdepartement mit einer Handvoll Leuten aufgebaut, als er vor 20 Jahren aus den USA zurückkehrte.»
Tabellini wurde zum Gesicht der Bocconi. Nicht ohne Grund nennt man ihn «Bocconiano». Seine Kompetenz beeindruckt Tom Schmitz: «Tabellini ist ein bemerkenswerter Wissenschaftler. Er ist einer der intelligentesten Menschen, die mir je über den Weg gelaufen sind. Er wäre ein guter Finanzminister geworden.»
Es kam jedoch nicht so weit. Mr. Forbici und Bocconiano ist das Schicksal der letzten Technokratenregierung erspart geblieben. Nur die Finanzmärkte hatten das Vertrauen in Mario Monti nicht verloren.
Heute ist der italienische Preuße Präsident der Bocconi.
ZUR PERSON: Tom Schmitz (31)…
…ist gebürtiger Luxemburger und kommt aus der «Fiels». Er ist Assistenzprofessor für Ökonomie an der Bocconi University in Mailand. Seine Forschungsschwerpunkte sind Firmendynamiken, Makroökonomie und internationaler Handel. Er hat sein Doktorat in Barcelona an der Universitat Pompeu Fabra absolviert. Der Titel seiner These: «The Macroeconomic Impact of Firm-level Heterogeneity». Schmitz hat an der gleichen Uni einen «Master of Research in Economics» abgeschlossen. Er hält zudem einen «Master of Science in Management, Quantitative Economics and Finance» der HEC Paris, einen «Master in International Affairs» von Sciences Po Paris und einen «Bachelor in Applied Economics» der Université Paris-IX Dauphine. Schmitz hat drei Brüder und reist mehrmals pro Jahr nach Luxemburg.
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