Einer der hartnäckigsten Mythen über die USA ist, dass die US-Bundesregierung noch immer ihre Schulden bezahlt habe. Jedes Mal, wenn das Schuldenlimit im Kongress debattiert wird, holen Politiker und Journalisten einen weit verbreiteten Irrglauben aus der Abstellkammer hervor: Die USA lassen ihre Gläubiger nicht auf ihren Forderungen sitzen.
Von Sebastian Edwards*
Es gibt dabei nur ein Problem: Das stimmt nicht. Es gab eine Zeit – die inzwischen Jahrzehnte zurückliegt –, als die USA sich mehr wie eine «Bananenrepublik» verhielten als wie eine hoch entwickelte Volkswirtschaft und Schulden einseitig und rückwirkend umstrukturierten. Und während sich kaum noch jemand an diese kritische Phase der Wirtschaftsgeschichte erinnert, hält sie für die Gegenwart wertvolle Lehren parat.
Im April 1933 verkündete Präsident Franklin Roosevelt in dem Bemühen, den USA zur Flucht aus der Großen Depression zu verhelfen, Pläne, wonach die USA den Goldstandard aufgeben und den Dollar abwerten würden. Doch sollte dies nicht so einfach sein, wie FDR sich das ausgerechnet hatte. Die meisten Kreditvereinbarungen der damaligen Zeit enthielten eine «Goldklausel», die festlegte, dass der Schuldner «in Goldmünzen» oder einem «Goldäquivalent» zahlen müsse. Diese Klauseln wurden nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg eingeführt, um Anleger vor einem plötzlichen steilen Anstieg der Inflation zu schützen.
Für FDR jedoch war die Goldklausel ein Hindernis auf dem Weg zur Abwertung. Wenn die Währung abgewertet wurde, ohne die vertraglichen Probleme zu lösen, würde der Dollarwert der Schulden automatisch steigen, um den schwächeren Wechselkurs auszugleichen, was zu vielen Konkursen und einer enormen Erhöhung der Staatsverschuldung geführt hätte.
Goldklausel abgeschafft
Um dieses Problem zu lösen, verabschiedete der Kongress am 5. Juni 1933 eine gemeinsame Resolution, die alle Goldklauseln in vergangenen und künftigen Kontrakten für nichtig erklärte. Damit wurde die Grundlage für eine Abwertung gelegt – und für einen politischen Kampf. Die Republikaner waren bestürzt, dass der Ruf des Landes gefährdet wurde, während die Regierung Roosevelt argumentierte, dass die Resolution nicht auf einen «Vertragsrückritt» hinausliefe.
Am 30. Januar 1934 wertete der Dollar offiziell ab. Der Goldpreis stieg von 20,67 Dollar pro Unze – ein Preis, der seit 1834 gegolten hatte – auf 35 Dollar je Unze. Nicht überraschend argumentierten die Inhaber von durch die Goldklausel geschützten Wertpapieren, dass die Außerkraftsetzung verfassungswidrig sei. Es wurde Klagen eingereicht, und vier davon erreichten letztlich im Januar 1935 den Obersten Gerichtshof. Die Richter hörten zwei Fälle, bei denen es um private Schuldtitel ging, und zwei im Hinblick auf Staatsanleihen.
Die zugrunde liegende Frage war in jedem Fall im Wesentlichen dieselbe: War der Kongress befugt, Verträge im Nachhinein zu ändern?
Am 18. Februar 1935 verkündete der Oberste Gerichtshof seine Entscheidungen. In jedem Fall befanden die Richter 5-4 zugunsten der Regierung und gegen die eine Entschädigung fordernden Anleger. Laut der Mehrheitsmeinung war die Roosevelt-Regierung befugt, sich als Begründung für die Annullierung von Verträgen auf die «Notwendigkeit» zu berufen, wenn das dazu beitrug, die Volkswirtschaft aus der großen Depression zu befreien.
Richter James Clark McReynolds, ein Jurist aus dem Süden, der während der ersten Amtszeit von Präsident Woodrow Wilson Justizminister gewesen war, schrieb die Minderheitenmeinung – eine für alle vier Fälle. In einer kurzen Rede sprach er über die Heiligkeit von Verträgen, staatliche Verpflichtungen und Schuldenzahlungsverweigerung in der Verkleidung der Rechtsstaatlichkeit. Er schloss seinen Vortrag mit markigen Worten: «Scham und Demütigung sind nun über uns gekommen. Man kann mit Sicherheit ein moralisches und finanzielles Chaos erwarten.»
Kollektive Amnesie
Die meisten Amerikaner haben diese Episode vergessen, und eine kollektive Amnesie hat ein Ereignis überkleistert, das dem Bild eines Landes widerspricht, in dem Rechtsstaatlichkeit herrscht und Verträge heilig sind.
Aber gute Juristen erinnern sich; auf das Urteil des Jahres 1935 wird heute noch Bezug genommen, wenn Anwälte im Zahlungsverzug befindliche Länder (wie Venezuela) verteidigen. Und da immer mehr Regierungen sich mit neuen, schuldenbedingten Gefahren auseinandersetzen müssen – wie etwa nicht gegenfinanzierten Verbindlichkeiten in Verbindung mit Renten- und Krankenversorgungsverpflichtungen –, werden wir diesem Argument möglicherweise in Zukunft sogar noch öfter begegnen.
Laut aktuellen Schätzungen belaufen sich die nicht gegenfinanzierten Verbindlichkeiten der US-Regierung auf atemberaubende 260% vom BIP – und dabei sind herkömmliche Schulden des Bundes und nicht gegenfinanzierte Verbindlichkeiten der Einzelstaaten und Kommunen noch nicht einmal eingeschlossen. Auch ist dies kein auf Amerika beschränktes Problem; in vielen Ländern nehmen die mit dem Rentensystem und der Krankheitsversorgung verbundenen Verpflichtungen zu, während die Fähigkeit zu ihrer Finanzierung abnimmt.
Eine wichtige Frage ist daher, ob Regierungen, die Verträge im Nachhinein anpassen wollen, sich einmal mehr auf das rechtliche Argument der „Notwendigkeit“ berufen können. Die Außerkraftsetzung der Goldklausel im Jahr 1933 bietet jede Menge rechtliche und wirtschaftliche Gründe, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Der Oberste Gerichtshof der USA hat dem Notwendigkeitsargument schon einmal zugestimmt. Es ist nicht weit hergeholt, zu glauben, dass dies noch einmal geschehen könnte.
*Sebastian Edwards ist Professor für internationale Ökonomie an der UCLA und Verfasser mehrerer Bücher, darunter zuletzt «American Default: The Untold Story of FDR, the Supreme Court, and the Battle over Gold». Aus dem Englischen von Jan Doolan.
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